Tödliche Arbeitsbedingungen in der Türkei

Sterben am Arbeitsplatz

Seite 2 – Protest gegen Megaprojekte
Reportage Von

Kaum etwas anderes in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten war so entscheidend und symbolisiert so sehr Erdoğans Aufstieg vom islamisch-konservativen Außenseiter in einer säkularen Republik zum unbestrittenen Herrscher einer neuen Türkei wie die Baubranche. Das gilt insbesondere für ­Megaprojekte wie den Flughafen. Es ist kein Zufall, dass die bisher größte ­Oppositionsbewegung gegen Erdoğans Regime, die Gezi-Revolte im Sommer 2013, bei der Millionen von Menschen die Straßen des Landes einnahmen, als Widerstand gegen ein fragwürdiges Bauprojekt begann. Der Auslöser der Proteste war das Vorhaben, den am Taksim-Platz gelegenen Gezi-Park im Zentrum Beyoğlus durch ein Einkaufszentrum im osmanischen Stil zu ersetzen. Bei dem folgenden Aufstand ging es aber bei weitem nicht nur um ein Einkaufszentrum, sondern vor allem um die gesamte autoritäre ökonomische Entwicklung des Regimes, die dieses Projekt verkörperte: die rücksichtslose Zerstörung von Grünflächen und ­Natur, die Verdrängung armer Bevölkerungsgruppen und die Beseitigung kultureller und politischer Denkmäler, um Platz zu schaffen für Erdoğans neue, neoimperiale Türkei. Wo eine ­andere Regierung vielleicht versucht hätte, den Unmut der Bevölkerung mit einem Kompromiss zu beschwichtigen, antwortete Erdoğan mit der ­Niederschlagung der Proteste. Und auch wenn der Gezi-Park gerettet werden konnte, wurden andere Großprojekte wie der Flughafen mit aller Kraft vor­angetrieben.

Mücella Yapıcı ist die Vorsitzende des Ausschusses für Umweltverträglichkeitsprüfung der türkischen Architektenkammer sowie Generalsekretärin von »Taksim-Solidarität«, einer der ersten Koordinationsgruppen der Gezi-Proteste. Ihr zufolge ist der »Baufeldzug« aus mehreren Gründen von zentraler Bedeutung für das Regime. Zum einen, erzählt sie in einer Kneipe im eher ­liberalen und kosmopolitischen Bezirk Kadıköy, hätten die Bauprojekte das Heranwachsen von regierungstreuen Kapitalisten ermöglicht: »Diese Bauvorhaben sind nicht nur ein Motor für die türkische Wirtschaft insgesamt, sondern haben auch viele Freunde des Regimes bereichert.« Das womöglich deutlichste Beispiel für die Vetternwirtschaft, die im Bausektor herrscht, sei der Abriss und Wiederaufbau des in Beyoğlu gelegenen Armenviertels Tarlabaşı. Die Firma, die den Auftrag erhielt, gehörte zur Çalık Holding Group, deren Geschäftsführer zu dem Zeitpunkt Berat Albayrak war, Erdoğans Schwiegersohn und Protegé. Mächtige Konzerne wie Çalık, die aus dem Bauboom hervorgegangen sind, seien zu einem zentralen Machtinstrument für Erdoğan geworden, so Yapıcı. Einer der Wirtschaftszweige, den diese Holdings inzwischen kontrollierten, sei die für ihre Linientreue bekannte türkische Medienbranche.

Neben dieser institutionellen Rolle für die Festigung des Regimes sei der Bauboom auch ideologisch wichtig. »Sinn vieler dieser Projekte ist es, die Wählerschaft Erdoğans zufriedenzustellen«, sagt Yapıcı. Es gehe darum, zu ­zeigen, dass man jetzt das Sagen habe, im Land wie in der ganzen Region. Während der neue Flughafen, einer der größten der Welt, ein Siegesmonument für Erdoğans Streben nach mehr geopolitischem Einfluss für die Türkei sei, so sei der Bau einer riesigen Moschee am Taksim-Platz, im Herzen der säkularen, multiethnischen und linken Türkei, ein Monument des Triumphs von Erdoğans konservativer Bewegung über ihre Gegner.

 

Vom Boom zur Krise

Der Beobachtungsstelle İSİG Meclisi zufolge ereignet sich etwa ein Viertel ­aller Todesfälle am Arbeitsplatz in der Baubranche. »Wegen der hohen Fluktuation der Beschäftigten am Bau und der Häufigkeit, mit der sie von einem kurzen Arbeitsvertrag zum nächsten ziehen, ist es schwierig, sie gewerkschaftlich zu organisieren und bessere Bedingungen zu erkämpfen«, sagt Tezcan Acu, ein Bauarbeiter und Mitglied der Baugewerkschaft İnşaat-İş. Bei wichtigen Großprojekten, deren pünktliche Fertigstellung höchste Priorität habe, sei der Druck auf die Beschäftigten besonders hoch.

Offiziellen Stellen zufolge sind beim Bau des neuen Flughafens bis Anfang Dezember mindestens 52 Arbeiter ums Leben gekommen; unabhängige Stellen berichten hingegen von 400 Todesopfern. Im September, wenige Wochen vor der Einweihung des Flughafens, traten dort Arbeiter nach tödlichen ­Arbeitsunfällen in einen Streik, um gegen die katastrophalen Arbeitsbedingungen zu protestieren (Jungle World 39/2018). Hunderte von ­ihnen wurden festgenommen, darunter auch einige von Acus Kollegen aus der Gewerkschaft İnşaat-İş. Als Ende November bei einem Unglück auf der Baustelle einer Zufahrtsstraße außerhalb Istanbuls drei Arbeiter starben, reagierten die ­Behörden nicht etwa mit Bemühen um Aufklärung, sondern mit einem Berichterstattungsverbot.

Dass die Angst der Regierung vor ­Arbeitskämpfen im Bausektor wächst, liegt unter anderem an der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung des vergangenen Jahrs. 2018 sind die Zinsen stetig gestiegen und die türkische Lira hat stark an Wert verloren. Der Bauboom scheint abzuflauen und damit droht das Ansehen Erdoğans bei seinen Wählerinnen und Wählern zu sinken; es könnte zur Rezession oder gar zu einem Crash kommen. Auch wenn dies Gegnerinnen und Gegnern der Baupolitik Erdoğans entgegenkommen mag, scheint dies im Moment vor ­allem zu noch schwierigeren Bedingungen für Arbeiter und Regierungskritiker zu führen.