Chemnitz – Das Problem ist nicht Staatsversagen

Die Mitte bebt

Der Staat hat in Chemnitz nicht versagt. Er hat vielmehr erneut bestätigt, gegen Rechtsextreme kaum etwas einzuwenden zu haben.

Ein Mensch wird in Chemnitz getötet. Demonstrationen »zu seinem Andenken« finden statt, über diese wird zwei Wochen lang berichtet und die ganze Republik scheint sich einig darüber zu sein, dass weite Teile der Republik dieses »Trauern« nicht recht verstünden. Die Politik verspricht, sich des Problems anzunehmen.

Woher kommt die ganze Trauer? Was unterscheidet den Toten von Chemnitz von all den anderen, die mit Gewalt um ihr Leben gebracht wurden? Die Antwort darauf ist der Öffentlichkeit einigermaßen klar: Das Opfer war Deutscher, die mutmaßlichen Täter hingegen gehören der Gruppe an, gegen die seit Monaten immer deutlicher Stimmung gemacht wird, längst auch bis in die linksliberale Öffentlichkeit hinein. Es handelte sich um Flüchtlinge.

Die Parole »Wir sind mehr« ist nicht nur in Anbetracht der tatsächlichen Zahlenverhältnisse bei vielen Konfrontationen fragwürdig. Es bestätigt sich zudem, dass die AfD nach Chemnitz nicht etwa Einbußen in den Wahlumfragen erleidet, sondern sogar zulegt. Jede Eskalation, die die Rechten herbeiführen können, bestätigt sie in ihrer These, dass es einen starken Staat brauche.

So fragte etwa die Wochenzeitung Die Zeit noch unlängst ihre Leserschaft ganz unverfänglich und dem demokratischen Diskurs verpflichtet, ob es nicht längst überfällig sei, auch einmal ­Geflüchtete ertrinken zu lassen, um andere von der gefährlichen Über­querung des Mittelmeers abzuhalten. Freilich war die Fragestellung – »See­notrettung: Oder soll man es lassen?« – nur als provokanter Debattenbeitrag gemeint, aber sie sprach all denjenigen aus der Seele, die sich schon länger fragten, ob man den Schutz von Flüchtlingen mit dem Wenigen, was der Rechtsstaat für sie bereit hält, nicht auch einmal lassen könnte.

Als Zeichen der Trauer und ausgelöst durch die Tötung von Daniel H. in Chemnitz kam es zu den Szenen, von denen Sachsens Ministerpräsident ­Michael Kretschmer in einer Regierungserklärung im Landtag am 5. September in aller Bestimmtheit sagte, es habe sie nicht gegeben: Es sei »kein Mob« in Erscheinung getreten, es hätten »keine Hetzjagd« und »keine Pogrome« stattgefunden.

Angesichts der rassistisch motivierten Verfolgungsjagden, all der Hitlergrüße und der 6 000 Trauernden, die mit Sätzen wie »Ausländer raus« und »Unser Schlachtruf heißt Töten« durch Chemnitz zogen, war Kretschmers Klarstellung in Sachen der Wortwahl tatsächlich notwendig. Schließlich galt es auch zu rechtfertigen, weshalb die sächsische Polizei nur mit 300 Beamten zugegen war, um die Rechtsextremen in Schach zu halten, was dann auch nur notdürftig gelang.

Es fällt freilich leicht, in Anbetracht all dieser Versäumnisse hämisch auf Sachsen zu blicken und von Staatsversagen zu sprechen, zumal diese Häme es ermöglicht, den Sachsen immerhin ein lautstarkes »Wir sind mehr« entgegenzuhalten. Dann wird, wie Anfang September, einmal ein großes Konzert veranstaltet, zu dem man Linke aus der ganzen Republik herankarrt, um zu demonstrieren, dass mit der Demo­kratie alles in bester Ordnung sei, auch wenn sie gelegentlich Aussetzer hat. Grundsätzlich allerdings hält man daran fest, dass die Mehrheit heute wie morgen auf Seiten der »Anständigen« sei.