Die Psychologie des Nazivorwurfs

Die Nazis, die keine sein wollen

Seite 2

Für den AfD-Anhang sind einfühlsame Umschreibungen gefunden worden: Wutbürger, Unverstandene, Abgehängte, Modernisierungsverlierer. Man müsse ihnen zuhören, man habe sie verstanden und ihre Anliegen seien zum Teil berechtigt, findet der jeweilige rechte Flügel in allen großen Parteien. Alles, was man von ihnen zu befürchten habe, sollten sie sich schlimmstenfalls durchsetzen, sei eine illiberale Demokratie, Zustände also wie in Ungarn, Polen, Italien oder Österreich. Das konservative Bürgertum findet das nicht dramatisch, nicht einmal die FDP regt sich über den Verlust an Liberalität auf. Sie halten sich an das pein­liche Urteil des Bundesverfassungsgerichts, ­wonach die Nazis in Deutschland so unbedeutend seien, dass man nicht einmal die NPD verbieten müsse.

Die »illiberale Demokratie« ist die jüngste Orwell’sche Begriffsverwirrung in der Debatte über, das was gerade in Europa geschieht. In den genannten Ländern untergräbt man demokratische Normen wie die Unabhängigkeit der Justiz, die Pressefreiheit und -vielfalt, die Rettung von Menschen in Seenot, den Schutz von Minderheiten, das Asylrecht – und stets geht es darum, dass die Würde des Menschen relativ, also antastbar sei. Das ist keine Frage von mehr oder weniger Liberalität, vielmehr wird die Demokratie selbst in Frage gestellt.

Sicher ist es nicht sinnvoll, vor lauter Empörung alle Rechten in einen Topf zu werfen. Auch wenn die Übergänge fließend sind, gibt es einen Unterschied zwischen der relativ großen Gruppe der Völkischen und der relativ kleinen Gruppe bekennender Vollnazis. Leider sind die hiesige Erinnerungspolitik und das Lernen aus der Vergangenheit noch nicht bis zu der Erkenntnis vorgestoßen, dass es in der Weimarer Republik nicht anders war. Deutschnationale, Nationalliberale, autoritäre Unternehmer und Akademiker, Reichswehrveteranen und Kaiserliche waren es, die der zunächst sektiererisch kleinen NSDAP zu jenem Aufschwung verhalfen, den Hitler brauchte, um an die Macht zu kommen. Sie alle wollten anfangs keine Nazis sein. Umso mehr galt das nach 1945. Dann wollten sie bekanntlich keine Nazis gewesen sein.

An diesem Punkt korrespondieren die Täuschungen, mit denen sich das rechte Lager manchmal plump, manchmal raffiniert inszeniert, mit dem ­Bedürfnis der Gesellschaft nach Selbsttäuschung und Beruhigung. Daraus entsteht eine Dynamik, in der sich so starke Kräfte entwickeln können, dass sie die Akteure selbst mit sich reißt. War Gauland Herr seiner Sinne, als er sagte, »Hitler und die Nazis« seien nur »ein Vogelschiss in über 1 000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte«? An welchen Abgründen taumelt der bayerische Ministerpräsident entlang, dem das Wort Anker zur Lieblingsvokabel geraten ist? Erst hat er die Heimat zum »seelischen Anker« der Menschen erhoben, dann preist er das »Ankerzentrum«, das nun mal auch so heißt (»Ankunft, Entscheidung, Rückführung«), als Lösung des Flüchtlingsproblems, kaum verhehlend, dass es sich dabei um Lager handeln wird, in denen eine Ware konzentriert werden soll. Um diese Begriffe – befestigen, verankern, lagern, konzentrieren – kreisen Söders Gedanken und keiner kann vorhersagen, wohin ihn diese Manie noch führt.

Faschisierung ist kein Fünfjahresplan, den eine verschwörerische Gruppe beschlossen hätte. Auch der tiefe Staat, über den sich im NSU-Urteil nicht einmal die Spur einer Andeutung findet, entsteht nicht einfach auf Befehl. Vielmehr handelt es sich um komplexe Prozesse, in denen verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Motiva­tionen sich gegenseitig aufschaukeln. Es ist nicht die dümmste Idee, an einer Sammlungsbewegung zu arbeiten, die dieser Dynamik entgegentritt. Sie könnte sich auf die zentrale Devise verständigen, alles zu tun, was der AfD schadet, und alles zu unterlassen, was ihr nutzt.

Aber da fängt das Problem an. Dieser Minimalkonsens ist der Antifa zu wenig, während er Frau Wagenknecht schon zu weit geht. Es mangelt eben doch an Geschichtsverständnis, von der Fähigkeit zu dialektischem Denken ganz zu schweigen. Denn in Wahrheit ist das der Maximalkonsens.