Sahra Wagenknecht will keine offenen Grenzen für alle

Halbherzig geschlossen

Der Parteitag der Linkspartei in Leipzig war bis kurz vor dem Schluss eine unspektakuläre Veranstaltung. Dann sprach Sahra Wagenknecht über Migrationspolitik.

Die Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Sahra Wagenknecht, beendete am Sonntag ihre Rede auf dem Parteitag der Linkspartei, begleitet von Zustimmung, Buhrufen und Applaus. Eigentlich war die Veranstaltung schon fast beendet, als es in Leipzig noch einmal spannend wurde. Etwa 25 Stunden, ­gefüllt mit Anträgen, Diskussionen und Beschlüssen, hatten die Delegierten auf ihrem Parteitag in Leipzig bereits hinter sich gebracht. Die zentrale Streitfrage der Migrationspolitik wurde jedoch erst gegen Ende des dreitägigen Parteitags angesprochen.

»Du zerlegst gerade diese Partei«, rief die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach ins Saalmikrophon: »Du ignorierst die Position der Mehrheit dieser Partei und hast jetzt wieder nachgelegt. Das ist unglaublich.« Wagenknecht hatte zuvor unter anderem dazu aufgerufen, »sachlich und ohne Diffamierungen« darüber zu diskutieren, ob es Grenzen für Arbeitsmigration geben solle. Auch die Antwort Wagenknechts auf ihre Kritiker trug nicht zur Beruhigung der Gemüter bei. »Den Hungernden in Afrika nutzen offene Grenzen nichts, weil sie gar nicht die Mittel ­haben, sich auf den Weg zu machen«, konterte sie.

Drei Nachfragen waren zur Wagenknecht-Rede vorgesehen. Die innerparteiliche Auseinandersetzung hätte an diesem Punkt zumindest für dieses ­Wochenende beendet sein können. Auch die Linksjugend hatte nur still mit ­einem »Refugees Welcome«-Banner protestiert und dann wortlos den Saal verlassen. Doch es folgte ein über­raschender Antrag zur Geschäftsordnung auf eine einstündige Debatte. Sinnbildlich für den Zustand der Partei war das Abstimmungsergebnis zu diesem Antrag knapp: 250 Delegierte stimmten dafür, 249 dagegen. Die ­Reaktionen auf die nicht vorgesehene Debatte reichten von Erheiterung und Erleichterung über Gleichgültigkeit bis zu Entsetzen. Es deutete sich an, dass die Linkspartei doch noch die Schlagzeilen bekommen würde, die sie das gesamte Wochenende über vermieden hatte.

Am Tag zuvor war der Leitantrag des Parteivorstandes für »offene Grenzen«, »legale Fluchtwege« und ein »faires System zur Aufnahme von Geflüchteten« beschlossen worden.

Der Bundesvorsitzende Bernd Riexinger ließ keine Zweifel an seiner Zustimmung: »Wir brauchen offene Grenzen. Zu diesem Satz im Leitantrag stehe ich. Die Linke verliert ihre Seele und ihre Bedeutung, wenn sie sich nur auf nationalstaatliche Verteilungskämpfe beschränkt.« Zugleich wetterte Riexinger gegen den US-Präsidenten Donald Trump, forderte Investitionen in ­Bildung statt Militär und solidarisierte sich mit den Streikenden bei Amazon. Die Co-Vorsitzende Katja Kipping konzentrierte sich in ihrer Rede besonders auf den Aufschwung rechter Tendenzen in der Gesellschaft: »Es wäre fahr­lässig, diesen zu unterschätzen. Hier bildet sich gerade der Bodensatz für ­einen neuen Faschismus.« Die Linkspartei sei das »Kontrastprogramm zur AfD«, für die es nie Duldung und Akzeptanz geben werde, sondern nur »klare Kante«. Wichtige Unterschiede zwischen beiden Parteien zeigten sich vor allem in der Sozial-, Migrations-, Friedens-, Gleichstellungs- und Klimapolitik.

In der Auseinandersetzung über die Migrationspolitik gab sich Kipping versöhnlich: »Das wurde häufig als Konflikt zwischen zwei Frauen dargestellt. Aber niemand muss sich für oder gegen eine Seite entscheiden. Wir sind alle Teil der Linken und das ist gut so.« In der Partei gebe es weder Rassisten noch Neoliberale. Inhaltlich positionierte sich Kipping ähnlich wie Riexinger: »Wir stehen an der Seite aller Entrechteten, egal ob am Werkstor oder auf den Fluchtrouten.«

Beide Reden erhielten viel Applaus. Konnten sich Kipping und Riexinger in diesen Momenten noch gestärkt fühlen, folgte am Samstagnachmittag die Ernüchterung. Bei der Wahl des Parteivorstandes erhielten sie 64 beziehungsweise 74 Prozent der Stimmen. Kipping hatte vor zwei Jahren noch zehn, Riexinger gut vier Prozentpunkte mehr erhalten. Beide waren ohne Gegenkandidaten angetreten.

Der Leitantrag mit dem Bekenntnis zu »offenen Grenzen« war zuvor fast einstimmig angenommen worden. Genau darauf verwiesen einen Tag später auch zahlreiche Rednerinnen und Redner während der einstündigen Diskus­sion über die Konflikte in der Partei und den Kurs in der Migrationspolitik.

»Wir haben gestern mit überwältigender Mehrheit einen Leitantrag beschlossen und gesehen, dass der Konsens sehr groß ist«, sagte die hessische Fraktionsvorsitzende Janine Wissler, die auf dem Parteitag erneut zur stellvertretenden Parteivorsitzenden ­gewählt wurde. Ihr Appell: »Wir sollten solidarisch streiten. Wenn wir die Halle verlassen, dann sind wir eine Partei und nehmen die politischen Gegner wieder ins Visier und kämpfen gegen die gesellschaftlichen Missstände.«

Der Bundestagsabgeordnete Fabio De Masi, der sich vor kurzem selbst mit einem Thesenpapier  zur Migrationspolitik seiner Partei zu Wort gemeldet hatte, sagte: »Ich möchte mich bei Pflegekräften, Taxifahrern und Leiharbeitern entschuldigen, die vielleicht zuschauen und sich fragen, ob es bei diesem ­Parteitag überhaupt um ihre Interessen geht.« Ähnliche Forderungen wie Wagenknecht erhob allerdings niemand. Wer sie verteidigte, argumentierte meist damit, dass abweichende ­Meinungen innerhalb der Partei geduldet werden müssten. Dass sich die Linkspartei als mit Flüchtlingen solidarische Friedenspartei präsentieren möchte, zeigte sich auch in den Wünschen der Anwesenden. Der Bundestagsabgeordnete Diether Dehm sagte: »Ich träume davon, dass die Polizei eine Roma-Familie abschieben möchte – und Sahra Wagenknecht und Katja ­Kipping sitzen auf der Treppe und verhindern es gemeinsam.«

Ein gemeinsamer Auftritt folgte zumindest am Ende der Debatte: Wagenknecht, Kipping, Riexinger und der Co-Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Dietmar Bartsch, kamen gemeinsam auf die Bühne und verkündeten, dass es »offensichtlich weiteren Diskussionsbedarf« gebe. Deshalb wolle man demnächst zusammen in Klausur gehen. Wagenknecht betonte, dass es ­abgesehen von der Migrationspolitik viele Übereinstimmungen in der ­Partei gebe, und Kipping wies darauf hin, dass man »nur zusammen den Rechtsruck aufhalten« könne. Am Ende zeichnete der Parteitag also ein Bild halbherziger Geschlossenheit. Der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, Jörg Schindler, fürchtet trotz der harten Debatten keine Spaltung. »Ich sehe die Partei auf einem guten Weg«, sagte er MDR Aktuell.