Die Proteste in Nicaragua gegen die Regierung von Daniel Ortega werden vor allem von Studierenden getragen

Aufstand gegen den Revolutionär

In Nicaragua demonstrieren weiterhin Zehntausende Menschen gegen die Regierung von Präsident Daniel Ortega. Vor allem Studierende tragen die Proteste.

Für einen Moment standen sich die Gegner direkt gegenüber: der ehemalige Revolutionär und amtierende Präsident Daniel Ortega, den viele Menschen in Nicaragua bereits einen Diktator nennen, und der Student Lesther Alemán, der für Zehntausende Protestierende spricht. Bei einem Treffen im Rahmen des »nationalen Dialogs« am 16. Mai rief der 20 Jahre alte Alemán, aufrecht stehend und mit einer blau-weißen Landesflagge über den Schultern, Ortega all die Dinge zu, die viele Menschen seit Wochen auf die Straßen treibt: die Wut über die Korruption und die Repression gegen die Demonstrierenden. Am Ende seiner Rede rief Alemán, seines Zeichens Mitglied des Bündnisses Coalición Universitária: »Das hier ist kein Dialog, wir sind hier, um Ihren Abgang zu verhandeln.« Ortega saß am anderen Ende des Raums und verzog keine Miene. Wenig später ging das Video mit Alemán in den sozialen Netzwerken viral, bald eskalierte die Gewalt erneut.

Seit mehr als einem Monat demons­trieren fast jeden Tag Zehntausende auf den Straßen Nicaraguas. Sie fordern die Abdankung des 72jährigen Ortega, der seit elf Jahren als Vorsitzender der sozialistischen Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) das Land regiert.

Ortega selbst hatte in den siebziger Jahren als Revolutionär den brutalen Diktator Anastasio Somoza Debayle bekämpft und schließlich gestürzt, nun hält er sich selbst mit Gewalt an der Macht. Mehr als 83 Menschen sind bei den Protesten bereits gestorben, fast 900 wurden verletzt, über 400 festgenommen. Es gibt Gerüchte über Folter und den Einsatz scharfer Munition, auf Facebook kursieren Fotos von vermissten Jugendlichen. Getragen werden die Proteste von Studierenden, viele von ihnen sind nicht einmal 20 Jahre alt. Wie auch in anderen Teilen Lateinamerikas sind sie unzufrieden mit der autoritären Regierung. Jetzt könnten sie das Land grundlegend verändern.

»Wir haben nicht mit der Gewalt gerechnet«, sagt Yasser Morales, ein 20 Jahre alter Medizinstudent aus Léon, der zweitgrößten Stadt Nicaraguas. Es ist Ende Mai, er ist ins Haus seiner Eltern aufs Land gefahren, um sich auszuruhen. Die Proteste haben ihn erschöpft. Per Skype erzählt er von den vergangenen Wochen, von den Protesten, dem Tränengas, den Knüppeln und der wachsenden Wut auf die Regierung. Am 18. April gingen in der Hauptstadt Managua einige Hundert Rentner und Studierende auf die Straße, um gegen die Rentenreform der Regierung zu demonstrieren. Noch im Februar hatten die Abgeordneten des Parlaments ihre Diäten erhöht, nun sollte die neue Reform die Rentenbeiträge kürzen. Denn seit Öllieferungen aus Venezuela weniger werden, geht es der Wirtschaft Nicaraguas immer schlechter. Es fehlt an Arbeitsplätzen und Perspektiven. Die Regierung gilt als korrupt. Zuletzt wurde Politikern vorgeworfen, einen gewaltigen Waldbrand in Kauf genommen zu haben, um günstig an Land zu kommen.

Immer wieder hatte es deshalb kleine Demonstrationen gegeben – doch am 18. April änderte sich alles. Denn als die Demonstrierenden durch die Straßen Managuas zogen, wurden sie plötzlich angegriffen. Die Jugendorganisation der sandinistischen Regierungspartei überfiel die Demonstration und ging mit Knüppeln und Gürteln auf die Protestierenden los. Videos und Fotos des Angriffs verbreiteten sich rasant im ganzen Land. Es gab einen Aufschrei. Auch Morales sah die Bilder und ging am nächsten Tag demonstrieren. Den Protesten begegneten die Polizei und die sandinistischen Schlägertruppen mit Gewalt. Am folgenden Tag gingen die Studierenden erneut auf die Straße. Dieses Mal waren sie vorbereitet.

Nicaragua ist ein Land mit einer jungen Bevölkerung. Der Altersdurchschnitt liegt bei 25 Jahren. Viele der Studierenden sind Ende der Neunziger geboren, sie sind mit Zugang zum Internet aufgewachsen und informieren sich kaum über die staatlichen Medien. Ihr halbes Leben haben sie unter der Regierung Ortegas verbracht. Viele von ihnen haben das Gefühl, nur wer in den FSLN eintrete, bekomme eine berufliche Chance. Staatliche Stipendien werden zuerst an Mitglieder der sandinistischen Jugend vergeben, sie kommen leichter an Wohnheimplätze und werden von regierungsnahen Unternehmen bevorzugt eingestellt. Die Familie Ortega hat einen guten Draht zur Wirtschaft und besitzt selbst etliche große Unternehmen.