In Libyen konkurrieren Milizen im Geschäft mit der Flüchtlingsabwehr

Umkämpftes Geschäft

In Libyen kämpfen Milizen um das Geschäft mit den Transitmigranten. Zur Verhinderung von Migration nach Europa kooperieren auch manche EU-Staaten mit Milizen.

Wer solche Retter hat, braucht keine Feinde mehr: Der in Berlin ansässigen NGO Sea-Watch zufolge, die Seenotrettung im Mittelmeer betreibt, haben die brutalen Methoden libyscher Küstenwächter unmittelbar dazu beigetragen, dass fünf Menschen nicht von ­einem auf dem Mittelmeer treibenden Schlauchboot gerettet werden konnten und ertranken.

Am Montag dieser Woche veröffentlichte die NGO schockierende Videos dieses Vorfalls. Die »Sea-Watch 3«, ein Boot der NGO, traf am Montagmorgen fast gleichzeitig mit einem Schiff der libyschen Küstenwache an der Position eines sinkenden Schlauchboots in 30 Kilometer Entfernung von der Küste ein. Das Schiff der Küstenwache behielt eine erhebliche Geschwindigkeit bei, während die Schiffbrüchigen aus dem Schlauchboot über eine Leiter an Bord geholt wurden. Mehrere Menschen fielen dabei ins Wasser. Auf Bildern, die von Sea-Watch publiziert wurden, fällt ein Heli­kop­ter der italienischen Marine ins Auge, der die Küstenwache zum Abbremsen auffordert. Auch ein totes Kind ist zu sehen. Sea-Watch rettete 58 der ungefähr 100 Menschen aus dem Schlauchboot, die Küstenwache 45. Letztere wirft Sea-Watch vor, die Rettung behindert zu haben; bereits gerettete Schiffbrüchige seien vom Schiff der Küstenwache gesprungen, um zur »Sea-Watch 3« zu schwimmen.

Der Einsatzleiter von Sea-Watch, Johannes Bayer, sprach in einer Stellungnahme am Montagabend von einer Mitschuld der EU, weil diese ein Aufbau- und Trainingsprogramm für die libysche Küstenwache unterhält, betreibt und finanziert.

Am 17. Oktober verkündete das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) in einer Pressemitteilung, 14 500 Menschen aus Gefangenschaft gerettet zu haben.

In diesem Fall hatte die italienische Marine zwar dabei geholfen, Menschenleben zu retten, indem sie gegen das Vorgehen der libyschen Küstenwache einschritt, generell arbeiten beide ­jedoch eng zusammen. Im Oktober kritisierte der Menschenrechtsbeauf­tragte des Europarats, Nils Muižnieks, die italienische Marinemission vor den Küsten Libyens: Wer im Mittelmeer aufgegriffene Migranten an libysche Stellen übergebe – eine gängige Praxis der Rückschiebung –, verstoße »gegen die Pflicht, deren Menschenrecht zu schützen«.

Ein Abkommen unterhielt Italien nach Medienberichten auch mit einem Warlord in der westlibyschen Stadt ­Sabrata, die lange Zeit als Zentrum des Menschenhandels galt. Ahmed Dabbashi, der unter dem Spitznamen al-Ammu (der Onkel) bekannt ist, gründete Anfang dieses Jahres eine Miliz mit dem Namen »Brigade 48«, um bei der Verhinderung von Migration über das Mittelmeer mitzuwirken. Dabbashi bekämpfte andere Milizen, die mit dem Transport von Migranten ihre mafiösen Geschäfte betreiben. Der War­lord, der aus einer einflussreichen lokalen Familie stammt, habe dafür von Italien Geld erhalten.

Diese Kooperation missfiel anderen bewaffneten Milizen. Unter ihnen befinden sich die sogenannten Madkhalisten, eine salafistische Strömung, die von Saudi-Arabien unterstützt wird. In Übereinstimmung mit der politischen Strategie des reaktionären Golfstaats unterstützt diese Miliz die Militärmachthaber in Ägypten und den in Ostlibyen an Einfluss gewinnenden General Khalifa Haftar gegen andere Milizen, die oft den Muslimbrüdern nahe­stehen.

Am 17. September brachen in Sabrata Kämpfe aus, die wochenlang andauerten. Die Miliz Dabbashis kämpfte dabei gegen die Koalition »Anti-ISIS Opera­tion Room« (AIOR). Diese wurde vergangenes Jahr im Kampf gegen den »Islamischen Staat« in Sabrata gegründet und verfügt wie Dabbashis Miliz über Verbindungen zur von der UN unterstützten libyschen Einheitsregierung unter Fayez al-Sarraj. Am 6. Oktober gab die AIOR bekannt, Sabrata nun vollständig zu kontrollieren. Während der wochenlangen Kämpfe wurden mutmaßlich 40 Menschen getötet, etwa die Hälfte der Bevölkerung floh an den Stadtrand. Da die in der Nähe von Sabrata liegende römische Ruinenstätte von den Kämpfen bedroht wurde, hatte auch die Unesco ein Ende der Kampfhandlungen gefordert.

Im Zuge der Auseinandersetzungen entkamen Tausende von Migrantinnen und Migranten – überwiegend aus dem subsaharischen Afrika – der Gewalt der Milizen, die sie bis dahin festhielten. Denn das aus offizieller italienischer Sicht mehr oder minder segensreiche Wirken von Warlords wie Dabbashi bestand hauptsächlich darin, Flüchtlinge und Migranten festzusetzen und zu internieren. Wie sich infolge der Kämpfe an Ort und Stelle herausstellte, waren über 20 000 Migranten in und um Sabrata gefangengehalten worden, zum Teil unter erschreckenden Bedingungen, ohne Zugang zu Toiletten oder Waschmöglichkeiten und in brütender Hitze. Viele von ihnen mussten bei unzureichender Ernährung und Wasserversorgung tagelang Zwangsarbeit leisten. Gefangene Frauen wurden häufig vergewaltigt.

Am 17. Oktober verkündete das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) in einer Pressemitteilung, 14 500 Menschen aus ­Gefangenschaft gerettet zu haben, weitere 6 000 Menschen würden jedoch noch immer von den Milizen festgehalten, auf Bauernhöfen im Umland von Sabrata, in Häusern oder Fabrikgebäuden. Unter den Freigekommenen befänden sich auch Kleinkinder. Einige der Betroffenen zeigten Schussverletzungen oder andere Anzeichen von Misshandlungen. Das UNHCR schickte 15 LKW mit Hilfslieferungen und Hy­gieneartikeln und forderte die »internationale Gemeinschaft« dazu auf, ­Geflüchtete aus Sabrata aufzunehmen. Bislang blieb dieser Aufruf ohne ernstzunehmende Reaktion.

Libyen war vor dem Bürgerkrieg von Februar bis August 2011, der zum Sturz des Gaddafi-Regimes führte, das Ziel vieler Einwanderer aus dem subsaharischen Afrika. Damals war Libyen eher Arbeitsort als Transitland auf dem Weg nach Europa. Ungefähr zwei Millionen Arbeitsmigranten verrichteten einen Großteil der gesellschaftlich gering geschätzten körperlichen Arbeiten in dem nordafrikanischen Erdölstaat. Das alte Regime Muammar al-Gaddafis verfolgte eine Doppelstrategie. Einerseits verband es die Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte mit einem panafrikanischen Diskurs, der das Streben nach größerem Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent begleitete. Andererseits dienten gewalttätige Angriffe und Pogrome gegen subsaharische Afrikaner in den nuller Jahren mitunter als Ventil für den Unmut der libyschen Bevölkerung über ihre Lebensumstände; das Regime schritt nicht ein. Nach dem Sturz Gaddafis 2011 kam es zu einer Welle von rassistischer Gewalt gegen Schwarze, die pauschal verdächtigt wurden, Söldner des Regimes gewesen zu sein.