Die Linke gräbt am republikanischen Damm
Bei den französischen Präsidentschaftswahlen ist der Abend des ersten Wahlgangs der Auftakt des Wahlkampfs für die Stichwahl. An diesem Abend am vorvergangenen Sonntag war es der abgeschlagene Sozialdemokrat Benoît Hamon, der zuerst seine Unterstützung für Emmanuel Macron erklärte. Ohne Wenn und Aber sprach sich auch der Konservative François Fillon für Macron aus. Seine Konkurrenten bei den Republikanern, Alain Juppé und Nicolas Sarkozy, taten es ihm gleich. Landesweit riefen Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens dazu auf, am 7. Mai den liberalen Newcomer zu wählen. Ganz gleich, wie man zu Macron stehe, es gelte, den Vormarsch der Rechten aufzuhalten und eine Präsidentin Le Pen zu verhindern. Das demokratische Lager folgte also der schon erprobten Praxis, einen »republikanischen Damm« gegen den Front National zu errichten.
Da fiel es auf, dass der mit 19,5 Prozent der Stimmen viertplatzierte Jean-Luc Mélenchon, der Kandidat der Bewegung »La France insoumise« (Das unbeugsame Frankreich), eine Wahlempfehlung ausdrücklich verweigerte. Er wolle sich nicht anmaßen, für die 450 000 Unterstützer seiner Kampagne zu sprechen. Sie erhielten im Netz die Gelegenheit, sich zwischen »Enthaltung«, »ungültig« oder »Macron« zu entscheiden. Eine nicht ganz unerhebliche Minderheit seiner Wähler, schätzungsweise ein knappes Zehntel, scheint allerdings entschlossen zu sein, Le Pen zu wählen. Seine persönliche Entscheidung will Mélenchon für sich behalten. Somit sieht sich der am weitesten links stehende unter den Bestplatzierten des ersten Wahlgangs nicht in der Lage, ein Votum gegen die am weitesten rechts stehende Kandidatin abzugeben.
Das ist nicht nur peinlich, sondern auch gefährlich. Ausgerechnet Mélenchon reißt eine Lücke in den republikanischen Damm. Bei früheren Wahlen betätigte sich der linke Sozialdemokrat noch als Vorkämpfer für dieses Konzept. Charlie Hebdo erinnert daran, dass er 1995 eine Initiative der Zeitschrift unterstützte, den FN zu verbieten.
Verbalradikale Stimmenn propagieren: »Ni Le Pen, ni Macron«. Sie behaupten, für die desillusionierte, wütende Jugend zu sprechen, und tun dies wohl auch teilweise. Das Problem des lupenrein antikapitalistischen Bekenntnisses liegt darin, dass es eine Gleichsetzung von Liberalismus und Faschismus impliziert.
Hat Mélenchon verlernt, bis drei zu zählen? Als es 2002 galt, die Präsidentschaft von Marines Vater Jean-Marie Le Pen zu verhindern, biss das linke Lager die Zähne zusammen und wählte den verhassten Jacques Chirac, der es im zweiten Durchgang deshalb auf 82 Prozent brachte. Große Zweifel gab es allerdings, ob die Konservativen bei einer anderen Konstellation die gleiche Disziplin und Selbstüberwindung aufbringen würden. Ein solcher Fall ist jetzt eingetreten, und tatsächlich halten sich Fillon, Juppé und Sarkozy an den demokratischen Konsens. Wie viele ihrer Anhänger ihnen dabei folgen werden, wird sich noch herausstellen.
Eine Situation, die den Abwehrdamm erfordert, könnte sich in naher Zukunft auch ein drittes Mal ereignen. Dann könnten sich vielleicht sogar »Links- und Rechtsextremisten« gegenüberstehen, das Horrorszenario aller bürgerlichen Kommentatoren. Warum sollten Liberale und Konservative dann anders handeln als Mélenchon 2017? Sein derzeitiger Absentismus ist geradezu ein Freibrief für die bürgerliche Mitte. Ein Damm, der einmal gebrochen ist, dürfte schwer wieder zu errichten sein.
Mélenchon hat ein Problem mit seinen Unterstützern. Die kommunistische Partei hat sich sofort von ihm distanziert: Am 7. Mai werde man Macron wählen und ab dem 8. Mai seine wirtschaftsfreundlichen Reformen bekämpfen. Andererseits propagieren verbalradikale Stimmenn: »Ni Le Pen, ni Macron«. Sie behaupten, für die desillusionierte, wütende Jugend zu sprechen, und tun dies wohl auch teilweise. Das Problem des lupenrein antikapitalistischen Bekenntnisses liegt darin, dass es eine Gleichsetzung von Liberalismus und Faschismus impliziert.
Wer Macron die Stimme verweigert, geht davon aus, dass Le Pen zwar anders, aber nicht viel schlimmer sei. Das aber ist das Ziel der Führungsriege des FN und ihrer Strategie der Entdämonisierung: Frankreich zuerst – na klar, ziemlich nationalistisch, rassistisch, na und? Man wird ja wohl noch sagen dürfen, was die Leute denken. So gibt sich Marine Le Pen, so wird sie wählbar und es hilft ihr sogar, wenn sie das Establishment in den Augen der jungen Wilden nicht radikal genug angeht.
Nicht die Kritik an Macron ist der Fehler dieses Ansatzes, sondern die Verharmlosung und Unterschätzung des FN. Alle relevanten Rechtsaußen-Parteien beherzigen die Lehre vom langen Marsch und haben damit Erfolg – aber nicht, weil sie sich gemäßigt hätten, sondern weil es ihnen mit vielen kleinen Schritten besser gelingt, Holocaust-Leugnung, Israel-Feindschaft, Hass auf Roma, Gewalt gegen Flüchtlinge, Sozialdarwinismus, Verachtung der Demokratie und so weiter gesellschaftsfähig zu machen. Das ignorieren jene, die jetzt verkünden, einen Macron könne man verzweifelten Arbeitslosen nicht zumuten. Im Gegenteil: Sogar ein Chirac, ein Sarkozy, ein Hollande, ein Alexander van der Bellen, eine Merkel, eine Clinton und natürlich auch ein Mélenchon müsste in einer solchen Konstellation gewählt werden.
Ni AKP, ni CHP, ni HDP? Ein Blick auf die Türkei, ein Gedanke an Deniz Yücel und einige Tausend andere Häftlinge sollte genügen, um die Abwegigkeit des Weder-Noch-Ansatzes zu erkennen. Es können nur übergeordnete Erwägungen sein, die Mélenchon zu seinem Verhalten bewegen. Hier kommt die russische Option ins Spiel, die in seiner linksnationalen Strategie eine wichtige Rolle einnimmt. Eine Empfehlung für den überzeugten Europäer Macron liefe den russischen Interessen entgegen und offensichtlich auch den US-amerikanischen: Trump twittert für Marine Le Pen, was so wenig überrascht, dass es kaum beachtet wird. Mélenchons Parti de Gauche ist mit der deutschen Linkspartei, mit Syriza, Izquierda Unida, Rifondazione Comunista und 20 weiteren sozialistisch-kommunistischen Parteien in der Europäischen Linken (EL) vereint.
Wie lange müssen diese Organisationen in kritischen Situationen eigentlich nachdenken, bis man mit ihnen rechnen kann? Solange sich die Linke in russische Abhängigkeit begibt, und sei es nur aus falsch verstandener UdSSR-Nostalgie, steht ihr Antifaschismus in Frage, weil Russland auf die Rechtspopulisten setzt.