Mit der türkischen Wirtschaft geht es bergab

Islamisierung hat ihren Preis

Die Türkei erlebt derzeit den schwersten Wirtschaftseinbruch seit dem Beginn der globalen Krise. Der politische Kurs von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist dabei von zentraler Bedeutung.

Wer wollte, konnte in den vergangenen zwei Monaten von der tiefen Wirtschaftskrise und der sie begleitenden Inflation in der Türkei ein wenig profitieren. Seit Präsident Recep Tayyip Erdo­ğan, Anfang Dezember in diversen öffentlichen Reden den Verfall der Lira um immerhin ein Fünftel ihres Wertes binnen weniger Monate als Folge einer internationalen, vor allem europäischen und US-amerikanischen Verschwörung bezeichnet hatte, strengten viele seiner Unterstützer unter den traditionell der Regierungspartei AKP nahestehenden Ladenbesitzern ihre Phantasie an, um ihrem Helden zu Hilfe zu eilen. So konnte man in vielen Städten der Türkei umsonst in Restaurants speisen und gratis Fisch, Haarschnitte oder gar Grabsteine bekommen, wenn man nur nachwies, US-Dollar in Lira getauscht zu haben. Aufpassen musste der Schnäppchenjäger lediglich darauf, die Lira nach Erhalt der Waren oder Dienstleistungen möglichst schnell wieder in die Ursprungswährung zurückzuwechseln. Denn der Verfall der türkischen Währung ging in den vergangenen zwei Monaten mit erhöhter Geschwindigkeit voran. 8,5 Prozent beträgt die Inflationsrate des vergangenen Monats, nachdem in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres erstmalig seit 2009 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gesunken war. Seit 1981 war die Lira gegenüber dem US-Dollar nicht mehr so wenig wert.
»Wer fremde Währungen unterm Kissen liegen hat, sollte sie in Gold oder in Lira umtauschen«, hatte Erdoğan mehrfach gefordert, um die Inflation aufzuhalten. »Lasst uns nicht dazu beitragen, dass fremde Währungen immer stärker werden.« Bisher allerdings haben die Kampagnen nicht viel genutzt. Denn die Inflation ist lediglich der augenfälligste Ausdruck der derzeitigen Schwäche der türkischen Wirtschaft und ihrer strukturellen Probleme. Vor allem die weitreichende Abhängigkeit von ausländischen Investitionen verrät die Schwäche der Akkumulation der türkischen Kapitale. Während in den achtziger und neunziger Jahren nach den Zahlen der Ratingagentur Moody’s lediglich etwa 35 Milliarden US-Dollar an Investitionen in die Türkei geflossen seien, sollen es seit Erdoğans Regierungsantritt 2003 »Hunderte von Milliarden« gewesen sein. Schon vor dem Putschversuch im Juli waren diese Investitionen deutlich eingebrochen. Im ersten Halbjahr des vergangenen Jahres waren sie mit fünf Milliarden Euro lediglich halb so hoch gewesen wie im selben Zeitraum des Vorjahres. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor, aber es ist zu erwarten, dass seit dem 15. Juli – dem Tag des gescheiterten Militärputsches und damit auch dem Beginn der fast vollständigen Aushöhlung der bereits schwachen Demokratie im Land – der Rückgang noch wesentlich stärker sein dürfte.
Derzeit sieht es danach aus, als wolle Erdoğan aus der Not eine Tugend machen. »Es ist an der Zeit, dass wir unsere Wirtschaft ebenso zurückerobern, wie wir am 15.Juli unsere Freiheit ergriffen haben«, lautet eine seiner parolen, die auf den Massenveranstaltungen der AKP stets wiederholt werden. Wie das konkret aussehen soll, dürfte aber auch Erdoğan nicht klar sein. Denn der zeitweilige Boom der Türkei basierte außer auf den Investitionen ausländischen Kapitals in die gigantischen Baumaßnahmen vor allem auf der Ausdehnung des privaten Konsums. Zwar ist die Staatsverschuldung der Türkei mit etwa 30,67 Prozent des BIP alles andere als besorgniserregend, aber die private Verschuldung nahm bereits in den vergangenen Jahren ein beunruhigendes Ausmaß an. Nicht nur die Unternehmen sind durch die Versorgung mit billigen Krediten offenbar zu großen Teilen völlig überschuldet, gleiches gilt für die Privathaushalte. Bereits 2013 konnten über eine Million türkischer Familien ihre Schulden nicht mehr bedienen. Die Lage dürfte sich seitdem, auch durch die Erhöhung von Konsumsteuern und Lebenshaltungskosten, weiter verschlechtert haben. Kre­ditausfälle könnten so zu einer Bankenkrise führen, von der die Türkei bisher verschont blieb.
Wie fragil und abhängig die türkische Wirtschaft auch in den Boomjahren seit 2003 war, kann man an ihren Leistungsbilanzdefiziten ablesen, die stets zwischen sechs und zehn Prozent betrugen. Um das auszugleichen, wurden im ersten Jahrzehnt der Präsidentschaft Erdoğans insgesamt 126 staatliche Unternehmen und Infrastrukturobjekte wie Häfen und Brücken privatisiert, was 35,5 Milliarden US-Dollar einbrachte. Nun sind die Handlungsspielräume des Staates entsprechend eingeengt. Dies allerdings muss nicht nur negative Folgen haben. Vor allem scheint der politische Kurs der türkischen Regierung seit Juli einen bedeutsamen Faktor für den tiefen und plötzlichen Einbruch der türkischen Ökonomie darzustellen, so die Angriffe auf die im Wirtschaftsleben bedeutsame Gülen-Bewegung, die mehr als 100 000 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst und die Ausweitung des Bürgerkriegs im Land, die den Tourismus um mehr als ein Drittel haben einbrechen lassen. Bedeutend ist auch die Ankündigung der US-Notenbank Federal Reserve, den Leitzinssatz wieder zu erhöhen, was zum Abzug von Kapital aus den Schwellenländern hin zu den US-Märkten geführt hat.
Am Samstag hat das türkische Parlament die von Erdoğan gewünschten, für die Umwandlung in ein Präsidialsystem nötigen 18 Verfassungsänderungen angenommen. Die endgültige Entscheidung soll in einem Referendum spätestens im April fallen. Da der türkische Präsident entschlossen zu sein scheint, der wachsenden Instabilität weiterhin mit Islamisierung und einem autoritäreren Kurs zu begegnen, dürfte sich diese ökonomische Entwicklung fortsetzen. In einer Studie unter dem Titel »Rezession am Horizont« kamen Mitte Januar etwa die Analysten der Berenberg-Bank zu dem Ergebnis, dass »die türkische Wirtschaft in den nächsten Jahren erheblich verfallen« werde, wenn der bisherige politische Kurs fortgeführt wird. Dafür werde insbesondere die gigantische Kapitalflucht aus dem Land sorgen, die bereits zu Abwertungen der Kreditwürdigkeit durch die großen Rating-Agenturen geführt hat. Vor allem zwischen der Bekämpfung der Inflation und der Ausstattung türkischer Unternehmen und Privathaushalte mit Krediten sei dadurch ein unauflöslicher Widerspruch entstanden. »Aggressive Maßnahmen, die den Verfall der Lira aufhalten würden, hätten eine zusätzliche Schwächung der Binnennachfrage zur Folge«, heißt es dort. Derzeit also ist Erdoğan dem Osmanischen Reich, das er so gerne wiedererschaffen würde, wenigstens im Titel nähergekommen: dem des »kranken Mannes am Bosporus«, als der das schwächelnde Imperium im 19. Jahrhundert häufig geschmäht wurde.