Die Debatte über Gewalt und Rassismus bei der Polizei in den USA

Erst informieren, dann schießen

In den USA sollen die Polizeibehörden bereits seit Jahren reformiert werden, um dem exzessiven Einsatz von Gewalt und dem Rassismus Einhalt zu gebieten. Auch wenn in einigen Städten etwas erreicht wurde, geht der Wandel nur langsam voran.

Wer einen Menschen tötet, wird von der Justiz dafür bestraft. So sollte es zumindest sein. Was aber, wenn ein Repräsentant des Staates tötet? Seit im Jahr 2014 in Ferguson im US-Bundesstaat Mississippi der 18jährige Michael Brown von dem Polizisten Darren Wilson erschossen und dieser dennoch entlastet wurde, scheint das Justizsystem der USA immer mehr in Frage gestellt zu werden. Dank Handykameras und Youtube geraten polizeiliche Übergriffe auf die Bürger – oftmals Afroamerikaner oder Angehörige anderer Minderheiten – immer öfter an die Öffentlichkeit, und so kam es in den vergangenen Jahren zu Protesten, Demonstrationen und vereinzelt sogar Unruhen, zuletzt in Charlotte in North Carolina nach den tödlichen Schüssen auf den Schwarzen Keith Lamont Scott. Viele US-Bürger fühlen sich benachteiligt und durch die Polizei systematisch entrechtet, nicht wenige vermuten Rassismus dahinter. Der Ruf nach Reformen wird immer lauter. In New York City, der Stadt mit der größten Polizeibehörde, drängt die Bürgerrechtsinitiative »Communities United for Police Reform« auf die Umsetzung des Reformgesetzes »Right to Know Act«, das unter anderem vorsieht, dass Beamte sich den Bürgern gegenüber zu erkennen geben und eine Durchsuchung oder Verhaftung genau begründen müssen.
Eigentlich sollte so etwas selbstverständlich sein, doch tatsächlich sind viele Polizeibehörden in den USA noch weit von dem entfernt, was der Anwalt und Rechtsexperte Rob Saltzman »Constitutional Policing« (verfassungsgemäße Polizeiarbeit) nennt. »Die Polizei darf bei ihrer Arbeit nicht gegen geltendes Recht verstoßen«, sagt er der Jungle World. »So simpel das klingt, historisch gesehen war es in den USA oft so, dass der Zweck die Mittel heiligte. ›Constitutional Policing‹ bedeutet aber auch, dass die Polizei nicht nur die Bürger vor Verbrechen zu schützen hat, sondern auch die Grundrechte der Bürger aktiv beschützen muss.«
Saltzman weiß, wovon er spricht. Bis vor wenigen Wochen war er Mitglied der Polizeikommission von Los Angeles, einem fünfköpfigen zivilen Aufsichtsgremium, das über dem Polizeichef steht. 1992 gab es in Los Angeles blutige Unruhen, ausgelöst durch den gerichtlichen Freispruch von vier Polizisten, die am 3. März 1991 den schwarzen Autofahrer Rodney King mit Metallknüppeln brutal zusammengeschlagen hatten. Daraufhin wurden tiefgreifende Reformen angestrebt. 1994 verabschiedete der Kongress den »Violent Crime Control and Law Enforcement Act« (Gesetz zur Kontrolle von Polizei und Gewaltverbrechen), der nicht nur Milliardenbeträge für Reformen bereitstellte, sondern es dem Justizministerium auch ermöglichte, örtliche Polizeibehörden zu verklagen, falls strukturelle Verletzungen von Bürger- oder gar Menschenrechten vorliegen.
Erschwert werden die Reformbestrebungen seit eh und je dadurch, dass in den USA jede Polizeibehörde anders strukturiert ist. Auch zwischen den drei größten Polizeibehörden, denen von New York City, Chicago und Los Angeles, gibt es erhebliche Unterschiede. Derzeit haben etwa 20 Städte »Consent Decrees« unterzeichnet, gerichtlich verbindliche Anerkenntnisbeschlüsse, in denen sie sich zu Reformen verpflichten, meist unter Druck des Justizministeriums. Dazu gehören Pittsburgh, Cincinnati, Oakland, New Orleans, Cleveland, New York City und Detroit. In Los Angeles wurden in den vergangenen 20 Jahren der zivilen Polizeikommission erheblich mehr Befugnisse erteilt. »Die Ausbildung der Beamten wurde von Grund auf überdacht«, berichtet Saltzman, »und es wurden neue Richtlinien bezüglich des Einsatzes polizeilicher Gewalt festgelegt. Das war ein Wendepunkt, der unsere Polizei nach vorne brachte.« So kommt es, dass die Polizei von Los Angeles von einer von Rassismus geprägten und militaristisch agierenden Organisation zu einem Vorreiter der Reform wurde. »Der Trend geht zur Deeskalation«, sagt Saltz­man. Dennoch ist auch in Los Angeles Polizeigewalt ein dauerhaftes Problem. »Unsere Beamten müssen zwingend den Einsatz von Gewalt überdenken, da haben wir noch immer ganz klar ein Problem«, gibt Saltzman zu. Allein dieses Jahr wurden im Großraum Los Angeles bislang 19 Latinos, sechs Schwarze und zwei Weiße von der Polizei getötet.
»Gerechtfertigt ist der Einsatz von Gewalt nur, wenn ein Beamter der Meinung ist, dass sein Leben oder das Leben von Zivilisten in Gefahr ist oder es zu Verletzungen kommen kann«, so Saltzman. »Dann gibt es eine interne Untersuchung, die von zwei Stellen durchgeführt wird, einer dreiköpfigen Kommission innerhalb der Polizei und einem separaten Gremium der Kommission. Es liegen dann zwei Berichte vor, mit insgesamt Hunderten von Seiten. Manchmal weichen die Berichte voneinander ab. Falls die Kommission die angeklagten Beamten für schuldig befindet, geben wir dem Polizeichef eine entsprechende Empfehlung.« Doch spätestens hier wird es problematisch, denn in Los Angeles entscheidet allein der Polizeichef über das Strafmaß. »Das geht von null bis psychologische Betreuung, Aberkennung eines Dienstrangs oder im schlimmsten Fall Suspendierung vom Dienst«, erklärt Saltzman. »Meiner Meinung nach gibt es nicht genug Disziplinarstrafen für Beamte, die gegen die Vorschriften verstoßen haben.« Es kann zwar auch zu Gefängnisstrafen kommen, doch können diese nur von einem zivilen Gericht verhängt werden. In vielen Fällen kommt der beklagte Beamte ohne größere Strafe davon.
Am 12. April starb der 25jährige Freddie Gray in einem Polizeitransporter des Baltimore Police Department (BPD). Das Justizministerium hat hierzu in einem Bericht vom 10. August ein vernichtendes Bild des BPD gezeichnet. Es soll jahrelang zu systematischen Misshandlungen von Frauen gekommen sein, deren Beschwerden über häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch oftmals nicht ernst genommen wurden. Auch mit ethnischen Minderheiten ging das BPD nicht gerade zimperlich um. Die Protestbewegung Black Lives Matter (BLM) beklagt, dass Afroamerikaner in den USA insgesamt viel häufiger zu Opfern von Polizeigewalt werden als Weiße, laut Statistiken etwa zwei- bis dreimal so oft. Andere, wie die Kommentatorin Heather Mac Donald vom konservativen Think Tank Manhattan Institute, behaupten, dass es in schwarzen Gegenden deshalb verstärkt zu Polizeieinsätzen kommt, weil die Verbrechensrate dort oftmals höher ist als in anderen Gegenden. Sie verweist auf Statistiken der New Yorker Polizei, denen zufolge im Jahr 2014 59,8 Prozent aller Morde in New York von Schwarzen verübt wurden, die lediglich 25,1 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
»Beide Aussagen haben einen wahren Kern«, gibt Saltzman zu, »aber BLM ist der Wahrheit sehr viel näher. Unter Profis, die sich mit dem Thema befassen, steht fest, dass der Einsatz von polizeilicher Gewalt überproportional Afroamerikaner trifft. Zum Teil ist das auf Voreingenommenheit zurückzuführen. Manches davon ist unbewusst, ist in unserer Gesellschaft verankert, aber auch in der Kultur innerhalb der Polizei.« Diese ist stark von Loyalität gegenüber den Kollegen geprägt, was Reformen erschweren kann. So wurde in New York die Durchsetzung des »Right to Know Act« lange verzögert, erst jetzt soll es vorangehen, allerdings nun im Eiltempo. Das mag daran liegen, dass der derzeitige New Yorker Polizeichef William Bratton einen Ruf als Reformer zu verteidigen hat. Von 2002 bis 2012 überwachte er die Umstrukturierung des Los Angeles Police Department – erst als außenstehender Beobachter und dann als Polizeichef. Nach Ablauf seiner Amtszeit wurde er nach New York gerufen, um auch hier Reformen voranzutreiben.
Sein Nachfolger in Los Angeles, Charlie Beck, hat hingegen ein eher angespanntes Verhältnis zur Polizeikommission. Dennoch gibt es auch in Los Angeles mittlerweile wieder Fortschritte. Als Beispiel führt Saltzman den Umgang der Polizei mit LGBT an, hier hat die Polizeikommission neue Leitlinien durchgesetzt: »Die Probleme sind noch immer bedeutend, aber ich bin optimistisch, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen.«