Die türkische Regierung bekämpft unabhängige Medien

Berichterstatter im Tarnanzug

Nach dem gescheiterten Putschversuch werden türkische Medien entweder drangsaliert oder sie üben sich in Hofberichterstattung. Statt Aufklärung gibt es vor allem Verschwörungspropaganda. Derweil gehen Terror und Repression weiter.

Nach dem gescheiterten Putschversuch floriert ein besonderer Berufszweig in der Türkei, der des Denunzianten. Der Fernsehsender CNN-Türk widmet derzeit im fast täglichen Wechsel Denunzianten beste Sendezeiten. Am Sonntag fabulierte der Journalist İsmail Saymaz über die Hintergründe des verheerenden Selbstmordanschlags in Gaziantep. Ein Jugendlicher hatte sich Samstagabend inmitten einer kurdischen Hochzeitsgesellschaft in die Luft gesprengt. Bislang starben 54 Menschen an den Folgen des schrecklichen Attentates, darunter 29 Kinder. »Es gibt einen Schriftverkehr zwischen Yunus Durmaz und İlhami Bali«, so Saymaz in der Sendung »Die außerordentliche Tagesordnung«. Yunus Durmaz soll nach Informationen der Polizei von Gaziantep der Verantwortliche für Terroranschläge des »Islamischen Staats« (IS) in der Türkei gewesen sein. Er sprengte sich am 10. Juni in die Luft, als die Polizei sein Haus in Gaziantep stürmte und zwei Computer mit wichtigen Informationen beschlagnahmen konnte.
Warum Durmaz in seinem Haus einen Sprengstoffgürtel trug, konnte leider ebenso wenig ermittelt werden wie der Grund dafür, dass die Polizei von Gaziantep den jüngsten Anschlag trotz vorheriger Informationen nicht verhindern konnte. Saymaz plauderte auf CNN-Türk beflissen von einem Schriftverkehr, in dem Durmaz einen Anschlag auf eine Hochzeitsgesellschaft in Gaziantep und einen weiteren in Antalya angeordnet habe: »Das wird ein Café sein, in dem vor allem Touristen verkehren. Es geht darum, dem Tourismus in der Türkei zu schaden« – egal ob ein solcher Sprengsatz nun explodieren werde oder nicht. Die Geschichte darüber soll dem türkischen Zuschauer die momentane Realität erklären, die der Türkei einen regelrechten Zusammenbruch des Tourismusgeschäfts beschert. Schuld daran darf aber keineswegs die politische Instabilität sein. Der »Islamische Staat«, die PKK und die Gülen-Bewegung schürten den Terror im Land, im Hintergrund zögen dunkle Mächte die Fäden – diese »Erklärungen« finden sich derzeit in türkischen Medien.
Neben der allgemeinen politischen Depression erlebt die Türkei eine schwere Krise in der Berichterstattung. Die staatlich kontrollierten Medien publizieren täglich Verschwörungstheorien, daneben grassieren Selbstzensur und fataler vorauseilender Gehorsam. Saymaz etwa schrieb bis Mai für die mittlerweile nur noch online erscheinende frühere Tageszeitung Radikal. Dort publizierte er mehrere Texte zur »Ergenekon-Verschwörung« innerhalb der Armeeführung, die zwischen 2009 und 2014 für Schlagzeilen sorgte. Heute gelten die früheren polizeilichen Ermittlungsergebnisse im Ergenekon-Prozess als gefälschte Informationen der »Gülen-Terrororganisation« innerhalb des mittlerweile gesäuberten Polizeiapparates. Ein echtes Dilemma, denn die vielen »investigativen Texte« zu diesem Thema entpuppen sich nun als Einflüsterungen aus korrupten Polizeikreisen. Doch statt diese Mechanismen zu hinterfragen, zieht es der Großteil der türkischen Medien derzeit vor, die alten »Lügen« der neuen »Wahrheit« anzupassen.
In dem fünf Jahre dauernden Ergenekon-Verfahren standen 275 Verdächtige vor Gericht. Im August 2013 verurteilte ein Istanbuler Gericht die meisten davon zu langjährigen Haftstrafen. Im April revidierte das Berufungsgericht die Entscheidungen. Unter anderem seien Beweise rechtswidrig beschafft worden, hieß es plötzlich. Die Annahme des örtlichen Gerichts, dass Ergenekon eine Terrororganisation sei, teilten die Richter in Ankara auf einmal nicht mehr. Die Struktur der Organisation sei vielmehr völlig unklar. Der Ergenekon genannte Geheimbund sollte den damaligen Anklägern zufolge unter anderem versucht haben, die islamisch-konservative AKP-Regierung zu stürzen. Unter den Verurteilten waren zahlreiche Politiker, Journalisten und Akademiker. Nur 21 Angeklagte wurden freigesprochen. Die Opposition hatte der Regierung vorgeworfen, den Fall zur Abrechnung mit politischen Gegnern zu missbrauchen. Menschenrechtler und Verteidiger beklagten, dass entlastende Materialien verschwanden und Beweise manipuliert wurden. Viele Tatverdächtige saßen jahrelang in Untersuchungshaft, ohne je die Anklageschrift gesehen zu haben. Präsident Recep Tayyip Erdoğan erging sich mehrfach in der Beschreibung der Parallelwelten im Staatsapparat und unterstützte die Aburteilung der Angeklagten im Ergenekon-Prozess als letzten Schritt der Entmachtung der alten Armeeführung.
Die war tatsächlich verantwortlich für Exekutionen, fingierte Terroranschläge und Korruption. Doch statt den Prozess auf seriöse Ermittlungen zu stützen, wurden bereits damals viele politische Gegner aufgrund gefälschter Beweise verurteilt. Selbst der ehemalige Generalstabschef İlker Başbuğ saß damals in Haft. Als die Gülen-Bewegung im Polizeiapparat allerdings 2014 anfing, Beweise für die Korruptheit von AKP-Politikern und ihren Angehörigen über ihre »Investigativ-Journalisten« zu publizieren, wendete sich das Blatt. Nun sind die alten Freunde die Feinde und der Feind des Feindes wird zum Freund. Der ehemalige Ergenekon-Angeklagte İlker Başbuğ fabuliert plötzlich öffentlich über den Einfluss der CIA auf die Streitkräfte und unterstützt die momentan überall verbreitete Verschwörungstheorie, die Anhänger Fethullah Gülens im Staatsapparat seien von der CIA unterstützte Bösewichte und verantwortlich für die Verbrechen der vergangenen vier Jahrzehnte seit dem Putsch von 1980. Angesichts der Tatsache, dass der General a. D. selbst Chef des Generalstabs war, der der von Gülen infizierten Armee in dieser Zeit vorstand, erweist sich das als ebenso absurder wie unwürdiger Erklärungsversuch.
Der Fernsehsender CNN-Türk, Teil der Mediengruppe Doğan, bei der auch die Tageszeitung Hürriyet erscheint, avanciert seit dem Putsch zum Hofberichterstatter im Tarnanzug. Angeblich oppositionelle Investigativ-Journalisten wie Saymaz erscheinen in Sondersendungen und erklären das in der Türkei tobende Chaos in regierungsfreundlicher Form. Die »Gülen-Terrororganisation« und die PKK sind die traditionell beschworene Achse des Bösen, seit kurzem gehört auch der »Islamische Staat« dazu. Die Satirezeitschrift Uykusuz publizierte vergangene Woche ein Titelbild, auf dem ein Straßenhändler zu sehen ist, der einem Mann mit dunkler Sonnenbrille vor dem Eingang von CNN-Türk zuruft: »Ich habe Denunzianten anzubieten, geheime Fotos und Skandalpost.« Der antwortet: »Danke, davon haben wir schon genug.«
Parallel wird Jagd auf die wenigen oppositionellen Medien gemacht. 22 Journalisten der prokurdischen Tageszeitung Özgür Gündem wurden am Mittwoch vergangener Woche festgenommen, darunter auch die international renommierte Schriftstellerin Aslı Erdoğan, die für die Zeitung eine Kolumne schrieb. Maskierte Spezialeinheiten drangen am Abend in die Wohnung der Menschenrechtlerin Eren Keskin ein, die im Impressum der Zeitung als Mitherausgeberin erscheint. »Ich war zu dem Zeitpunkt in Diyar­bakır, sie haben meine 85jährige Mutter fast zu Tode erschreckt«, so Keskin gegenüber der Medienplattform Bianet. Ein Mitarbeiter des Online-Fernsehsenders İMC, der an jenem Mittwoch live über die Festnahme der Kollegen von Özgür Gündem berichtet hatte, wurde gleich mitverhaftet.
»Nennt uns alle Verräter«, ermunterte Präsident Erdoğan am Samstag seine Anhänger, »auch wenn es Nachbarn oder Verwandte sind.« Neben Journalisten, Politikern, Mitarbeitern der Justiz und des Bildungssystems sind seit vergangener Woche verstärkt Wirtschaftskreise betroffen. Ganze Unternehmen werden dabei als staatsfeindlich geschlossen, Manager wie der Vorstandsvorsitzende der islamisch-konservativen İhlas Holding, Cahit Paksoy, als Teil der »Fethullah-Gülen-Verschwörung« verhaftet. »Das alles geschieht wahllos und unkontrolliert«, kritisierte Eren Keskin am Sonntag gegenüber Bianet.
Außerhalb der prokurdischen Partei HDP erscheint die politische Opposition weitgehend paralysiert. Angesichts der erneut eskalierenden Gewalt im vor allem von Kurden bewohnten Südosten der Türkei ermahnte der Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, am Samstag die übrigen Parteien, Gespräche mit der HDP zu führen. Die Partei, gegen deren Parlamentarier Ermittlungsverfahren wegen staatsfeindlicher Aktivitäten laufen, wird derzeit von allen übrigen Parteien boykottiert. Gleich zum zweiten Mal traf sich der Vorsitzende der Nationalistischen Bewegungspartei (MHP) am Montag mit Ministerpräsident Binali Yıldırım, um über die Lage nach dem Putsch zu sprechen. MHP und AKP eint die Feindschaft gegen die kurdische Bewegung. Die HDP ist für beide nur ein verlängerter Arm der PKK. Noch hilfloser wirkt allerdings die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP). Ihr Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu tritt immer wieder als Mahner für mehr Demokratie auf. Gleichzeitig unterstützt die Fraktion die »Einheit gegen den Terror«. Am 4. September soll es nun in Istanbul eine große Kundgebung gegen »Putsch und Diktatur« geben. Das ist exemplarisch für die momentanen Widersprüche der Politik in der Türkei.