Eine Chronologie der Ereignisse von der AG Grauwacke

Als wir noch Helden waren

Eine Chronologie des kurzen Sommers der Anarchie in Ostberlin.

Auf den 9. November 1989 war die Berliner autonome Szene nicht vorbereitet. Während in Westberlin die Wohnungssituation angespannt war, standen in Ostberlin ganze Straßenzüge leer und gleichzeitig war die staatliche Ordnung völlig durcheinander geraten. Auf dieser Grundlage entstand die Ostberliner Hausbesetzerbewegung.
Bereits im Sommer 1989 war ein Haus in der Schönhauser Allee 20/21 besetzt worden. Nach dem Mauerfall folgten mehrere Besetzungen in Prenzlauer Berg und Mitte. In der Köpenicker Straße wurde erstmals ein Haus von Ost- und Westdeutschen gemeinsam besetzt. In Friedrichhain befand sich das erste besetzte Haus in der Schreinerstraße 47. Im März und April 1990 folgte die Besetzung von acht Häusern und zwei Grundstücken in der Kreutziger Straße. Mit dem legendären »Pilatus« entstand dort die erste Be­setzerkneipe. Dann kamen die Häuser in der Jessener und in der Grünberger Straße. Das Verhältnis zwischen ost- und westdeutschen Besetzern war dabei anfangs ziemlich ausgeglichen.
Ende Mai 1990 begannen in Friedrichshain erste Verhandlungen mit der kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV), die später in die Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain (WBF) umgewandelt wurde. Schnell stellte sich heraus, dass es in den verschiedenen besetzten Häusern unterschiedliche Strategien gab: Die einen wollten gar nicht verhandeln, andere suchten nach einer Lösung für alle Häuser und wieder andere strebten Einzelmietverträge an. Trotzdem versuchte man, eine gemeinsame Struktur aufzubauen. Insgesamt gab es im Sommer 1990 in Ostberlin 128 besetzte Häuser, die meisten davon in Friedrichshain, aber auch in Prenzlauer Berg, Lichtenberg und Mitte. Man kann von rund 2 500 Besetzerinnen und Besetzern ausgehen. Die Ostberliner Szene wurde innerhalb kürzester Zeit so groß, dass Kreuzberg völlig aus dem Blickfeld geriet.

Obwohl Gemeinsamkeiten mit der alten Hausbesetzerbewegung der achtziger Jahre vorhanden waren, kann man die Ostberliner Szene mit der aus Westberlin kaum vergleichen: Historisch einmalig war, dass man sich im Sommer 1990 de facto in einem rechtsfreien Raum befand: Man lebte in der DDR, zahlte, zumindest bis zur Währungsunion am 1. Juli 1990, DDR-Produkte mit DDR-Mark und setzte sich mit dem Magistrat statt dem Senat auseinander. Gleichzeitig fehlte weitgehend die staatliche Ordnung der DDR. Die bundesdeutsche Polizei hatte keine Hoheitsrechte in Ostberlin, die Volkspolizei ließ sich nur selten blicken. KWV beziehungsweise WBF, der Magistrat, die eigentlich zuständigen Behörden demons­trierten offen ihr Desinteresse am Treiben der Besetzerinnen und Besetzer. Das wurde natürlich genutzt: Ein Abenteuerspielplatz wurde in der Kreutziger Straße gebaut; überall entstanden neue Proberäume, unzählige Bands und ein Besetzerchor gründeten sich. Galerien, Infoläden, Verkehrsberuhigungsmaßnahmen, was auch immer man selbstverwaltet tun und lassen wollte war möglich.

Am 24. Juli 1990 wurde im Ostteil der Stadt die »Berliner Linie« aus dem Westen übernommen. Häuser, die nach diesem Termin besetzt wurden, sollten sofort geräumt werden, erklärteder Magistrat. So kam es am 30. August zum ersten Räumungsversuch in der neu besetzten Niederbarnimstraße 24. Die anwesenden Besetzerinnen und Besetzer konnten die Bauarbeiter, Vopos und den Friedrichshainer Bezirksbürgermeister Helios Mendiburu (SPD) jedoch überzeugen, unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Auch andere Neubesetzungen wie die Kinzigstraße 9 konnten gehalten werden.
Die Infrastruktur für die Kommunikation und Information zwischen den Häusern bestand unter anderem aus einem Besetzerrat (»B-Rat«), der später zu einem »Verhandlungsgremium« wurde. Neben der Autonomenzeitschrift Interim entstand eine Zeitung namens BesetzerInnen Zeitung (B.Z.). Produziert wurde sie im Rotationsprinzip immer in einem anderen Haus. Der freie, selbstverwaltete Sender »Radio 100« aus Westberlin war auch für die Ostberliner Szene ein Info-Medium und Mobilisierungsinstrument. Telefone gab es kaum, Handys waren noch nahezu unbekannt, und so richtete man in verschiedenen Häusern eine Funkzentrale ein, die möglichst die ganze Nacht besetzt sein musste und mit deren Hilfe vor allem bei Nazi-Überfällen mobilisiert werden konnte.
Das war notwendig, denn der rechtsfreie Raum in Ostberlin war alles andere als frei von Rechten – also von Nazis. Schon im März wurden in der Kreutziger Straße 22 Hausbesetzer im eigenen Haus von etwa 30 Nazis überfallen, die durch die Fenster eingestiegen waren. Immer wieder kam es auf der Straße zu brutalen Übergriffen. Nicht nur gegen Linke, sondern vor allem gegen Roma, Sinti und vietnamesische Migrantinnen und Migranten. Auch hier schaute die Volkspolizei lieber weg, als sich einzumischen.
Die Nazis besetzten sogar selbst ein Haus und bekamen im Tausch dafür von der Wohnungsbaugesellschaft ein Gebäude in der Weitlingstraße 122 in Lichtenberg zugesprochen – nicht weit von Friedrichshain entfernt. Das Haus wurde zur wichtigsten Schaltstelle der bundesdeutschen Neonazis. Pfingsten überfielen einige Dutzend Nazis die Mainzer Straße. Sie beschossen die Häuser mit Leuchtspurmunition, warfen Steine auf Fassaden und Fenster und grölten Parolen. Schließlich wurden sie von den Hausbesetzerinnen und Hausbesetzern verjagt, während die Volkspolizei zuschaute.
Als Reaktion auf diesen Überfall gab es am 23. Juli eine Antifa-Demo zur Weitlingstraße. Zum ersten und letzten Mal in der deutschen Geschichte kam es zu einer größeren militanten Auseinandersetzung zwischen Autonomen und der Volkspolizei. Diese hatte Schwierigkeiten, ihre Autorität durchzusetzen. Als es vor dem Nazi-Haus zu Auseinandersetzungen kam, fand sie sich zwischen den Fronten wieder: Auf dem Dach rund 300 Nazis, die mit Leuchtspurmunition schossen und Steine herunterwarfen, unten auf der Straße die Antifaschistinnen und Antifaschisten. Die Volkspolizei versuchte, die Demonstrierenden davon abzuhalten, das Haus zu stürmen, hatte aber nur eine Hundestaffel, mit der sie bei den zahlreichen Westautonomen ein wenig Eindruck schinden konnte. Als die beiden Wasserwerfer, die an Feuerwehrspritzenwagen aus alten Zeiten erinnerten, zum Einsatz kamen, konnten sich die meisten Autonomen das Lachen nicht verkneifen. Am Ende waren mehrere Polizeilastwagen ausgebrannt und demoliert. Die Stürmung des Hauses fand aber vor allem deshalb nicht statt, weil man den Nazis den Besitz von Schusswaffen zutraute. Diese Befürchtungen waren durchaus angemessen, denn, wie sich herausstellte, hielten sie im Haus 400 Liter Benzin bereit, dass sie auf die Antifaschisten schütten wollten.
In Friedrichshain verbesserte sich das Kräfteverhältnis nach und nach zugunsten der Linken. Schließlich war das Ziel der Antifa-Aktionen immer weniger Selbstschutz als vielmehr »den Kiez nazifrei halten«. Das gelang auch annähernd, allerdings mit hohem Einsatz. Nächtelang schlugen sich Aktivisten die Zeit an den Funkstationen um die Ohren, Infoketten wurden eingerichtet. Wenn irgendwo Nazis gesichtet wurden, strömten aus allen Häusern Leute herbei, ausgerüstet mit Knüppeln, Latten, Schlagringen und Helmen. In der Mainzer Straße gab es sogar eine »Einsatzwanne«, in die bei entsprechendem Alarm über zehn Leute reinspringen konnten, um zum Einsatzort zu fahren.

Das Fehlen einer staatlichen Ordnung ließ so manche Hemmschwelle sinken, was auch zu unverhältnismäßigen Angriffen auf vermeintliche Nazis führte, Skrupel wollte man sich – auf beiden Seiten – nicht leisten. Die Konfrontation wurde immer unerbittlicher. Dass alle Häuser mit Stacheldraht, Fensterläden und massiven Falltür-Konstruktionen gesichert waren, lag weniger an der Angst vor einer Räumung, sondern sollte dem Schutz vor Nazi-Angriffen dienen. ImZuge dieser Eskalation kam es am 21. November 1992, nach einer Handgreiflichkeit in einem U-Bahnhof an der Ecke zur Mainzer Straße auch zum Mord an dem 27jährihgen Antifaschisten Silvio Meier. Meier wurde von Neonazis mit mehreren Messerstichen getötet.
Der Kampf gegen Neoazis stieß im Sommer 1990 aber nicht nur auf Ablehnung. Kleine Antifa-Grüppchen, die auf offener Straße Nazis zusammenschlugen, konnten gelegentlich sogar mit Applaus von Passanten rechnen. Auch die Vopo wollte sich angeblich an der Antifa-Arbeit be­teiligen und bot den Hausbesetzerinnen und Hausbesetzern an, einen gemeinsamen Funkkanal zu betreiben, um sich besser über die Umtriebe der Nazis auszutauschen. Auf das Angebot ging man jedoch nicht ein.
Die Zeit war von großen, gerade im Nachhinein betrachtet, unermesslichen und ungenutzten Freiheiten und von einem zuweilen brutalen Machtkampf um den Kiez gekennzeichnet. Viele hatten in diesen Monaten die beste Zeit ihres ­Lebens, andere erfuhren Traumatisierungen. Pünktlich am 3. Oktober, dem Tag der Wiedervereinigung und der Übertragung der Polizeihoheit an Westberlin, endete dieser kurze Sommer der Anarchie. Die Demonstration unter dem Motto »Deutschland halt’s Maul« an jenem Tag, an der weit über 10 000 Menschen teilnahmen, mündete in einen großen Krawall am Alexanderplatz mit über 200 Festnahmen und fünf Haftbefehlen. Der Westen war angekommen.

Gekürzter und überarbeiteter Auszug aus: AG Grauwacke: »Autonome in Bewegung«, Assoziation A, 2003