Proteste in Bolivien finden große Unterstützung

Exportieren bis zum Sozialismus

Wochenlang gab es in der bolivianischen Minenstadt Potosí heftige Proteste für In­frastrukturmaßnahmen. Bei genauerer Betrachtung verfolgen die Regierung und die Streikenden jedoch ähnliche Ziele.

Potosí könnte eine der reichsten Städte der Welt sein, doch sie gehört zu den ärmsten Boliviens. Aus dem nahegelegenen Cerro Rico (»Silberberg«) haben Arbeiter seit der Kolonialzeit so viel Silber geholt, dass man damit eine Brücke von Bolivien bis Spanien bauen könne, so erzählt man sich vor Ort. Das Verhältnis der Bevölkerung zum Berg ist widersprüchlich. In der Stadt mit 190 000 Einwohnern lebt man von der Mine und leidet zugleich unter ihr. Die Wertschöpfung der kaum noch ertragreichen Edelmetallgewinnung sind zu großen Teilen in den Händen von multinationalen Konzernen. Für die Stadt bleiben die Umweltverschmutzung sowie gesundheitliche Folgeschäden der Kontamination – und für viele Geologen ist es ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis der durchlöcherte Berg einstürzt.
Nachdem es bereits 2010 zu wochenlangen Protesten gekommen war, hatte Präsident Evo Mo­rales Investitionen in die lokale Infrastruktur versprochen. Vergangenen Monat fand nun ein Generalstreik in Potosí statt. Von internationalen Medien weitgehend unbeachtet blockierten Mitglieder des Bürgerkomitees Potosí (Comcipo), eines Zusammenschlusses verschiedener Gewerkschaften und sozialer Organisationen, vier Wochen lang die Zufahrtsstraßen zur Stadt. Damit wollten sie den Forderungen nach Infrastrukturprogrammen, Industrialisierung und sozialen Standards in der Region Nachdruck verleihen. Die Forderungen des 26-Punkte-Plans der Streikenden reichten von der Errichtung eines internationalen Flughafens über den Bau von Kraftwerken, Fernstraßen und Krankenhäusern bis hin zur Verbesserung der Schulausstattung und der Bewahrung des Cerro Rico.

Präsident Morales lehnte den Wunsch nach ­einem internationalen Flughafen mit der Begründung ab, dass in 4 000 Metern Höhe kein der­artiges Vorhaben zu realisieren sei. Auch weigerte er sich, vor Ort mit den Protestierenden zu sprechen, und schickte stattdessen eine Ministerdelegation. Regierungsvertreter bezeichneten die Protestierenden wahlweise als Putschisten oder Rechtsradikale; letztlich wurden die Gespräche Anfang August mit gegenseitigen Schuldzuweisungen abgebrochen. Zwar sagte die Regierung zu, einige der Forderungen zu erfüllen, ausschlaggebend für das Ende des Streiks war jedoch die kurzsichtige Strategie des Bürgerkomitees. Denn der Generalstreik, also die hermetische Abriegelung Potosís von der Außenwelt, führte zu einem verordneten kollektiven Hungerstreik der Bevölkerung; es gab schlicht keine Nahrungsmittel mehr.
Dass die Proteste dennoch große Unterstützung fanden – 100 000 Personen versammelten sich bei Massenkundgebungen – zeigt, dass Comcipo den Nerv der Zeit getroffen hat. Wenngleich die vorgeschlagenen Maßnahmen kaum Progressives erkennen lassen, ist es zu einfach, sie als rechts abzutun. Jhonny Llally, einer der Sprecher Comcipos, sagte, er selbst habe Morales gewählt und bat diesen, im Sinne aller Einwohner zu regieren. Es geht also nicht um eine fundamentale Kritik an Morales, sondern um eine konsequente Umsetzung des Regierungsprogramms – auch in Potosí.

Morales ist mit dem Ziel angetreten, die natürlichen Ressourcen zu verstaatlichen und mit den Exportgewinnen die Industrialisierung voranzutreiben sowie Programme gegen Armut aufzulegen. Der exportorientierte Entwicklungspfad steht in Kontinuität zur Politik der Vorgängerregierungen. Die Bereitstellung von Ressourcen für den globalen Norden ist seit dem Beginn des Ko­lonialismus das Schicksal Lateinamerikas. Unter den linekn lateinamerikanischen Regierungen der vergangenen Jahrzehnte fand eine Intensivierung der Exportorientierung statt, wobei der Staat nun eine lenkende Rolle einnimmt. Dieser Neoextraktivismus fördert eine extreme Abhängigkeit von den stark schwankenden Weltmarktpreisen. In Bolivien etwa machen Rohstoffe (vor allem Öl und in geringerem Maße Metalle) 95 Prozent der Ausfuhren aus, viele Waren des alltäg­lichen Bedarfs und technologische Produkte müssen dagegen teuer importiert werden. Umweltpolitische Initiativen kritisieren die Regierung dafür, dass sie ökologische und soziale Standards den Entwicklungszielen unterordne und sie bisweilen komplett negiere. Der stellvertretende Präsident und intellektuelle Kopf der Regierung der »Bewegung zum Sozialismus« (MAS), Álvaro García Linera, wies die Kritik am »sogenannten Extraktivismus« 2013 in einem theoretischen Artikel zurück und rechtfertigte das Rohstoffexportprogramm als Zwischenschritt zur Schaffung des Sozialismus. Dieser werde erreicht, wenn allgemeiner Wohlstand, technisches Know-how und industrielle Entwicklung in breitem Maßstab existieren.

Die jüngsten Proteste lassen sich als Suche nach Alternativen zum neoextraktivistischen Kurs der Regierung verstehen. Die Umweltwissenschaftlerin Teresa Flores Bedregal verwies kürzlich in einem Kommentar auf die Perspektivlosigkeit der Bewohner Potosís, die trotz des produzierten Reichtums weitgehend abgehängt seien. »Die Protestierenden wollen nicht ohne Gesundheitsversorgung, gute Bildung und Arbeitsplätze dem Elend überlassen werden«, schrieb sie in der Zeitung Página Siete. Anstatt eine Umstrukturierung der Region für die Zeit nach dem Bergbau einzuleiten, etwa wie von Comcipo gefordert durch eine Orientierung auf Tourismus, beschränkt sich die Regierung darauf, Kritiker mundtot zu machen. So griff García Linera vergangene Woche vier traditionell der linken Bewegung nahestehende NGOs an. Diese machten sich mit multinationalen Firmen gemein, weil sie auf ökologische Grundsätze pochten. Zu Recht wiesen daraufhin zahlreiche renommierte lateinamerikanische Intellektuelle diesen Affront in einem offenen Brief als »Geste der Intoleranz« ­zurück. Nicht nur sie bewerten die Haltung der Regierung als »einen enormen Rückschritt für die bolivianische Demokratie«.