Die Rolle des Verfassungsschutzes bei der NSA-Affäre

In schlechter Verfassung

Nach dem NSU-Komplex zeigt der Spionageskandal, dass es sich beim Verfassungschutz um eine politische Institution handelt.

Auch der deutsche Inlandsgeheimdienst hat ein Interesse am Sammeln und Auswerten von Daten. Obwohl es eigentlich auch seine Aufgabe ist, Wirtschaftsspionage zu verhindern, räumt er anderen nationalen Interessen höhere Priorität ein. Die Rolle des Verfassungsschutzes im BND-Spionageskandal verweist aber auch auf seinen Charakter als politische Behörde
Noch 2013 hatte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg Maaßen, betont, dass »bis zum heutigen Tage in ganz Europa kein einziger Fall amerikanischer oder britischer Wirtschaftsspionage nachgewiesen« werden konnte. Die jüngsten Veröffentlichungen zeichnen aber ein anderes Bild. Offenbar haben US-amerikanische Geheimdienste die deutsche Wirtschaft ausspioniert. Und der Bundesnachrichtendienst (BND) hat ihnen dabei – wissentlich oder nicht – geholfen. Aber Maaßen, dessen Behörde auch die Aufgabe besitzt, deutsche Unternehmen vor solchen Angriffen zu schützen, will davon nichts gewusst haben – und auch weiterhin nichts wissen. Es gebe weiterhin keinerlei Beweise und auch die Nachfrage bei deutschen Unternehmen habe bisher nichts ergeben, behauptete der Verfassungsschutzchef Mitte Mai. Dabei hatte sich erst kurz zuvor der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) »empört« und »entsetzt« gezeigt über den Spionageverdacht und nach Informationen verlangt – die Maaßens Behörde offenbar nicht besitzt. Diese versucht sie nun über den BND zu bekommen, bei dem sie die Liste der Selektoren angefordert hat.
Nun könnte man die Frage stellen, was der Verfassungsschutz (VS) überhaupt mit der Wirtschaft zu tun hat. Der Auftrag des VS besteht dem Bundesverfassungsschutzgesetz zufolge im »Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung«. Eines von insgesamt acht Arbeitsfeldern ist die sogenannte Spionage- und Proliferationsabwehr. Gemeint ist vor allem Wirtschaftsspionage gegen deutsche Unternehmen. Auf seiner Website warnt der Verfassungschutz daher vor einer Vielzahl fremder Nachrichtendienste und deren konspirativen Methoden. Der sogenannte volkswirtschaftliche Schaden durch Wirtschaftsspionage in Deutschland beläuft sich angeblich auf 50 Milliarden Euro pro Jahr, dabei liegt die Bedrohung eher im Bereich des social engeneering, also in der realen Welt – durch illoyale oder frustrierte Mitarbeiter oder durch unvorsichtiges Verhalten, etwa auf Dienstreisen.
Der Staat, sein »nationales Interesse« und damit auch der »Schutz des Wirtschaftsstandortes Deutschland«, wie es Maaßen neulich bei einer Tagung formulierte, besitzen für den VS höchste Priorität. Mit dem Schutz von demokratischenRechten hat das alles wenig zu tun. Dementsprechend gab es vom VS auch keine Kritik zu hören, als 2013 die ersten Informationen über die umfangreichen Abhörtätigkeiten ausländischer Geheimdienste in Deutschland ans Tageslicht gekommen waren, und dies, obwohl es sich hierbei zweifelsohne um einen schwerwiegenden Angriff auf die Grundrechte handelte. Ganz im Gegenteil stellte sich heraus, dass neben anderen deutschen Geheimdiensten auch der VS eifrig Datenaustausch mit den Partnerdiensten betrieben hatte.

So ist es schwer zu glauben, dass das BfV hinsichtlich des aktuellen Skandals von nichts wusste. Entspräche das der Wahrheit, wäre es ein deutlicher und zugleich peinlicher Beleg dafür, wie schlecht das BfV arbeitet und wie wenig ernst ihn die internationalen Partnerdienste nehmen. Vielleicht finden die Beamten des VS das Thema aber auch einfach nicht so wichtig. Trotz regelmäßiger Workshops zum Thema Wirtschaftsschutz und aller Beteuerungen, in diesem Bereich liege ein Schwerpunkt der nachrichtendienst­lichen Tätigkeit, handelt es sich beim VS noch immer in erster Linie um eine politische Institution, die sich dem Kampf der politischen Feinde des Staates, den sogenannten Extremisten, und hier ganz besonders den Linken verschrieben hat. So ist auch Wirtschaftsspionage für den VS offenbar vor allem dann von Bedeutung, wenn er darin auch eine politische Ebene erkennen kann.
Dabei ist der jüngste Spionageskandal gerade deswegen aufschlussreich, weil er zeigt, dass Staaten und ihre Institutionen trotz fortschreitender Globalisierung zum Schutze der nationalen Ökonomie noch immer von größter Bedeutung sind. Trotz transnationaler Unternehmen, deren Umsätze die mancher Volkswirtschaften um ein Vielfaches übersteigen, handeln noch immer sie die politischen Rahmenbedingen aus und bemühen sich zugleich darum, den im je ­eigenen Land ansässigen Konzernen den größtmöglichen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen – sei es durch Freihandelszonen, Entwicklungshilfe, militärische Invasionen oder eben auch Spionage. Letzteres übernimmt für Deutschland der BND, dem derzeit ansonsten unterstellt wird, er sei der verlängerte Arm der Amerikaner.

Als politische Behörde sieht der Inlandsgeheimdienst seine Aufgabe eben vorrangig darin, die Bürger und Bürgerinnen zu überwachen und den Staat vor ihnen zu beschützen. Der jüngst vorgestellte Gesetzesentwurf zur Vorratsdatenspeicherung soll ihm dafür deutlich mehr Möglichkeiten geben: Telekommunikationsunternehmen sollen die sogenannten Metadaten, also Rufnummern sowie Zeit und Ort eines Gesprächs, zehn Woche lang speichern, Funkzellenabfragen zur Standortbestimmung sollen vier Wochen lang möglich sein. Zugriff darauf soll auch zukünftig nur bei schweren Straftaten erlaubt sein, wozu jedoch auch das »Einschleusen von Ausländern«, »Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates« und »schwere Fälle von Landfriedensbruch« zählen, wie aus dem Gesetzesentwurf hervorgeht.
Maaßen dürfte hierüber erfreut sein. Als der Europäische Gerichtshof im April vergangenen Jahres urteilte, dass die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und damit auch die bisherige Praxis der Behörden die Grundrechte verletze, fand der BfV-Präsident dies »bedauerlich« und beklagte die Überbewertung des Datenschutzes. Die aktuellen Versuche von Teilen der Bundesregierung, durch die Forderung nach umfassender Vorratsdatenspeicherung vom sogenannten Versagen des VS bei der rassistischen Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) abzulenken, dürften ihm ebenfalls gefallen. So hatte der SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Sigmar Gabriel im April bei der Ankündigung des neuen Gesetzesentwurfes betont: »Hätten wir das bereits zum Zeitpunkt der ersten NSU-Morde gehabt, hätten wir weitere vermutlich verhindern können.« Ihm scheint nicht bekannt zu sein, woran die polizeiliche Verfolgung des NSU gescheitert ist oder vielmehr mit wessen Hilfe er überhaupt so lange morden konnte. Derzeit soll im Münchner Gerichtsverfahren die Frage geklärt werden, ob der beim Mord an Halit Yozgat in einem Kasseler Internetcafé anwesende Beamte des VS gar mit einer Waffe vor Ort war. Selbst Gabriels Parteikollegin Dorothea Marx, Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses im Thüringer Landtag, bezeichnete daher seine Aussage als »Verhöhnung der Opfer« und »billiges Ablenkungsmanöver« vom Versagen der Behörden.
Wenn diese Behörde nun vehement zum Schutze der Bevölkerung die Überwachung der Kommunikation – wohlgemerkt nicht der eigenen – fordert und offensichtlich niemand diesen Witz versteht, sagt dies viel über die deutschen Zustände aus. Und über die Aussichten, ob eine wirkliche Aufklärung des NSU-Komplexes stattfinden wird. So bleibt nur zu hoffen, dass der VS selbst unter die Selektoren gefallen ist, mit denen die NSA die Kommunikation in Deutschland ausgeforscht hat, und dass bald bei Wikileaks die NSU files veröffentlicht werden.