Arbeitslosigkeit in Ungarn

Vollbeschäftigung per Dekret

In Ungarn prahlt der rechtspopulistische Ministerpräsident Viktor Orbán mit einer sinkenden Arbeitslosenzahl. Doch die Statistik trügt. Die neuartigen Beschäftigungsprogramme der Regierung seien der Zwangsarbeit ähnlich, kritisieren Gewerkschaften.

András Csonka sieht angeschlagen aus. Er kommt trotzdem mehrmals in der Woche hierher, in dieses einfach eingerichtete Büro, um »die Situation zu besprechen«. Natürlich freut er sich, dass er endlich Feierabend hat und sich mit anderen Menschen in Ruhe unterhalten kann. Seine unruhigen Hände erzählen seine Geschichte mit. »Morgens um sechs geht es schon los, jeden Tag, montags bis freitags. Wir müssen sehr pünktlich sein und einsatzbereit, sonst gibt es Ärger und das Geld wird schnell gekürzt. Jeder von uns ist für zwei, drei, vier Straßen zuständig, je nachdem, wie lang die sind. Erst müssen die Grünanlagen gereinigt und der Müll entsorgt werden, dann kehren wir gründlich den Fahrbahnrand, wo die Fahrzeuge der Stadtverwaltung nicht rankommen. Oft machen wir auch den Bürgersteig sauber, obwohl es eigentlich nicht unsere Angelegenheit wäre. Aber Fragen oder Kommentare sind unerwünscht.«
Der 53jährige Csonka ist seit 2009 arbeitslos. Das Bauunternehmen, bei dem er als Maler eine Stelle hatte, musste infolge der Wirtschaftskrise Insolvenz anmelden. »In Ungarn werden kaum neue Wohnungen mehr gebaut, und auch saniert wird immer seltener. Die Menschen haben einfach kein Geld mehr«, stellt Csonka fest. Bis Anfang 2012 versuchte er vergeblich, eine neue Arbeit zu finden. Dann bekam er plötzlich einen Brief von der Kommunalverwaltung des 9. Budapester Bezirks, in dem er aufgefordert wurde, sich für ein neues Beschäftigungsprogramm anzumelden. Sonst stehe ihm gemäß den Bestimmungen des neuen Arbeitsgesetzbuchs der Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht mehr zu, drohten die Behörden.
Csonka hatte keine andere Wahl, als der Anweisung zu folgen. Er wurde in einem Büro der Bezirksverwaltung vorstellig und die Beamtin teilte ihm mit, dass es sich um eine staatlich unterstützte Ersatzbeschäftigung als Straßenreinigungskraft handle. Acht Stunden täglich, fünf Tage wöchentlich seien vorgesehen. Monatslohn: umgerechnet rund 150 Euro, weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Tags darauf wurde ihm die Arbeitskleidung übergeben und ein »Sektor« zugeteilt. Es ging nicht gut. Immer wieder wurden Csonka und seine Kollegen für die kleinsten Fehler mit drastischen Kürzungen des Arbeitslosengeldes bestraft. Mal sei eine Zigarette am Straßenrand liegen geblieben, mal zeige er nicht genug Motivation, mal sei er fünf Minuten zu spät erschienen.
Am Anfang protestierte Csonka, zusammen mit anderen, gegen die disziplinarische Behandlung und gegen die Arbeitsbedingungen. »Handschuhe sind eine Rarität, die Ausstattung ist veraltet und oft kaputt«, beschwerte er sich. Doch als Antwort der Kommunalverwaltung kam eine kaum versteckte Drohung mit der Entlassung aus dem Beschäftigungsprogramm. Daraufhin beschloss die kleine Gruppe, einen Verein zu gründen, der sich für die Rechte der neuen »gemeinnützigen« Arbeiter engagiert. Der Schritt stieß bei den Kollegen auf breite Unterstützung, doch niemand weiß genau, wie sich dieses Anliegen gegen die nahezu allmächtige ungarische Regierung in die Tat umsetzen lässt. »Wir versuchen, uns über die Situation auszutauschen, viel mehr können wir im Moment nicht machen«, gibt Csonka zu. Kurz nach der Parlamentswahl vor einem Jahr endete für ihn das Beschäftigungsprogramm. »Nachdem Orbán wiedergewählt worden war, war es nicht mehr so dringend, die Statistiken zu schönen«, kommentiert er bitter. Doch bald ging die kosmetische Operation weiter.

Seit gut zwei Jahren prahlt der rechtspopulistische Ministerpräsident Viktor Orbán mit einer sinkenden Arbeitslosenzahl. Von 11,8 Prozent Anfang 2013 sei die Arbeitslosigkeit auf gegenwärtig 7,4 Prozent gesunken, so die Berechnung der ungarischen Behörden. Doch die Statistik trügt: Der Rückgang der offiziellen Arbeitslosenzahl ist eine Folge der umstrittenen, neuartigen Beschäftigungsprogramme, die die Regierung vor drei Jahren einführte. Rund 200 000 Menschen tauchen derzeit nicht mehr in der offiziellen Arbeitslosenstatistik auf, weil sie in die gemeinnützige Arbeit gezwungen wurden. Infolge einer grundlegenden Änderung des Arbeitsgesetzbuches im Jahr 2011 wurde die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld auf lediglich drei Monate eingeschränkt. Wer nach dieser Zeit keine neue Stelle gefunden hat, gilt dementsprechend als langzeitarbeitslos. Langzeitarbeitslosen kann jede Unterstützung gekürzt werden, wenn sie sich weigern, gemeinnützige Arbeit, auch fern von ihrem Wohnsitz, zu leisten.
Über die konkrete Umsetzung der neuen Programme, die erst 2013 richtig anliefen, entscheidet das Innenministerium zusammen mit den Kommunalverwaltungen. Diese legen nach einer Analyse der örtlichen Lage etwa die zu leistende gemeinnützige Arbeit und die Dienstregeln fest. Meistens handelt es sich dabei um Straßenreinigung oder Pflege der Grünanlagen, also um traditionelle Aufgaben der Kommunen, die bisher erledigt werden konnten, indem Arbeitskräfte zu den üblichen Konditionen beschäftigt wurden. Die gesetzlichen Bestimmungen für gemeinnützige Arbeit setzen allerdings die alten Beschäftigungsregeln, allen voran den Mindestlohn, außer Kraft und bieten den Kommunen ein unerwartetes Sparpotential. Anstatt eine Straßenreinigungskraft einzustellen, und ihr mindestens 320 Euro im Monat zu zahlen, kann jetzt im Rahmen der Sonderprogramme ein Langzeitarbeitsloser für die gleiche Aufgabe eingesetzt werden, das kostet nur 150 Euro im Monat.
Das Programm wurde aus diesem Grund von vielen Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften, auch von einigen Kirchenvertretern, heftig kritisiert. Ein weiterer Kritikpunkt ist die sozialdarwinistische Rhetorik der Regierung, die den »Arbeitsunwilligen« immer wieder mit der Streichung sämtlicher Sozialleistungen droht. Hinzu kommt, dass viele Kommunalverwaltungen, vor allem im strukturschwachen Osten des Landes, von der rechtsextremen Partei Jobbik dominiert sind. Da sich unter den Langzeitarbeitslosen viele Roma befinden, kommt es häufig zur rassistischen Instrumentalisierung der gemeinnützigen Arbeit: Die Rathausbeamten von Jobbik freuen sich über diese Gelegenheit, durch drakonische Regeln und permanente Schikanen den »faulen Zigeunern« zeigen zu können, wo es lang geht und was harte Arbeit bedeutet. Das ist der Fall etwa in der nordöstlichen Kleinstadt Gyöngyöspata, wo es in den vergangenen Jahren unter dem Jobbik-Bürgermeister immer wieder zu rassistisch motivierten Konflikten kam.

Die Einführung der neuen Programme hatte nicht nur den taktischen Grund, im Wahljahr 2014 die Arbeitslosenzahlen zu schönen. Dem Ministerpräsidenten geht es um mehr als einen kurzfristigen politischen Sieg. »In Ungarn haben wir erkannt, dass das westeuropäische Modell des Wohlfahrtstaates nicht mehr zeitgemäß ist. Stattdessen haben wir angefangen, den Staat auf einer neuen Grundlage, auf der Grundlage der Arbeit, umzubauen«, erklärte Orbán vor einigen Monaten auf einer Konferenz in Berlin. »Ob das ungarische Modell auch von anderen Ländern Europas übernommen werden kann, muss jeder für sich entscheiden«, führte er bescheiden aus. In Budapest drückt sich Orbán deutlicher aus und prophezeit, dass der ungarische Weg die einzige Antwort auf die Finanzkrise sei und bald Nachahmer finden werde.
Im vergangenen Sommer hielt Orbán eine weitere Rede, in der er zum ersten Mal das »ungarische Modell« eine »illiberale Demokratie« nannte. Spätestens seit der Weltwirtschaftskrise sei klar, dass der Liberalismus mit seiner Betonung der individuellen Rechte ausgedient habe. Ungarn und Europa müssten sich vom bisherigen politischen System verabschieden. Vorbilder für die neue Ordnung seien erfolgreiche, starke Staaten wie China, Russland, die Türkei und Singapur. Dort habe das gemeinsame nationale Interesse Vorrang vor dem Individualismus und das sei der richtige Weg in die Zukunft. Kritiker in Budapest befürchten indessen, dass Orbáns Prophezeiungen vor dem Hintergrund der andauernden Wirtschaftskrise in Europa tatsächlich zur bitteren Realität werden könnten. »In Deutschland wird die Ideologie von Fidesz meistens nicht ernst genommen, sie wird als osteuropäisches Kuriosum betrachtet oder auf lokale Besonderheiten zurückgeführt. Das ist eine Unterschätzung, die fatal werden kann«, warnt etwa der Soziologe János Ladány, der an der Budapester Corvinus-Universität unterrichtet.
Die Idee, Langzeitarbeitslose »mehr in die Pflicht zu nehmen«, sei zwar auch in Westeuropa nicht neu. Doch bisher sei diese Argumentationslinie hauptsächlich wirtschaftlicher und politischer Natur, gehöre der neoliberalen Ideologie, so Ladányi. Hingegen sei es der Anspruch von Viktor Orbán, durch diese und ähnliche Maßnahmen die ganze Gesellschaft einer tiefgreifenden Reform zu unterziehen, deren Grundzüge vom rechten, autoritären Korporatismus der dreißiger Jahren inspiriert seien. Aus dieser Perspektive handele sich bei der Armutsbekämpfung um die Verbesserung eines moralischen Fehlers. In der Tat gerieten in den vergangenen Jahren nicht nur Menschen ohne Arbeit ins Visier der ungarischen Regierung. Auch Obdachlosigkeit wurde kriminalisiert. Die Maßnahme erschien in Fidesz-Kreisen so wichtig, dass im Jahr 2013 eine entsprechende Verfassungsänderung vorgenommen wurde, um Beanstandungen durch das Verfassungsgericht aus dem Weg zu räumen.
Zuletzt sprach sich der Ministerpräsident für eine Verschärfung der Gangart auch gegenüber den Asylsuchenden aus Syrien, Afghanistan und dem Irak aus, die in immer höheren Zahlen über den Landweg nach Europa, und damit zunächst nach Ungarn drängten. »Wir müssen klarstellen, dass unser Land gar keine Einwanderung braucht«, so Orbán vor einigen Wochen. »Auch die EU sollte zugeben, dass sie eigentlich keine Menschen aus kulturfremden Regionen braucht.« Bis sich Brüssel in dieser Sache festlege, werde es allerdings noch dauern, deshalb müsse zuerst eine ungarische Lösung gefunden werden. Eine Arbeitsverpflichtung für Asylsuchende komme eventuell in Betracht.
András Csonka bekam Anfang des Jahres einen weiteren Brief von der Kommunalverwaltung. Leider habe es in den vergangenen Monaten, wie früher angekündigt, keine Finanzierungsmöglichkeit für seine Stelle als Straßenreiniger im 9. Budapester Bezirk gegeben. Nun sorge aber eine Aufstockung des Programmbudgets für eine baldige Wiederaufnahme der Tätigkeit unter den bekannten Bedingungen. Dementsprechend sei Csonka verpflichtet, ab dem 1. April an seinem Einsatzort wieder vorstellig zu werden.