Die Wahl des neuen tunesischen Präsidenten 

Präsidiale Probleme

In Tunesien wurde in der Stichwahl der 88jährige Beji Caid Essebsi zum Präsidenten gewählt.

Der Wahlsieg war deutlich und es flossen in der Folge auch keine »Ströme von Blut« durch das Land, wie es einer der Wortführer der sogenannten Ligen zum Schutz der Revolution großmäulig für den Fall angedroht hatte, dass Beji Caid Essebsi, der Gründer der antiislamistischen Partei Nidaa Tounès, die Wahl gewinnen würde. Am Montag gab die tunesische oberste Wahlbehörde ISIE die offiziellen Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen bekannt: gut 55 Prozent der im zweiten Wahlgang abgegebenen Stimmen für Essebsi, gut 44 Prozent für den scheidenden Übergangspräsidenten Moncef Marzouki.
Dieses Ergebnis war erwartet worden, weil die sogenannte Troika, das ehemalige Regierungsbündnis aus der islamistischen al-Nahda, Marzoukis Kongress für die Republik (CPR) und der sozialdemokratischen Partei Ettakatol, in den Augen vieler Wähler im Verlauf ihrer dreijährigen Regierungszeit, die 2013 in der Ermordung von zwei linken Politikern durch Jihadisten gipfelte, jede Legitimität verloren hatte. Andererseits war das Ergebnis auch hart umkämpft: De facto hatte al-Nahda Marzouki unterstützt, und ohne diese Unterstützung hätte dieser keine Chance gehabt, in die Stichwahl zu kommen. Bei den Parlamentswahlen im Herbst hatte der CPR lediglich etwa zwei Prozent der Stimmen erhalten. Nach Schätzungen identifizieren sich 70 Prozent der Wähler Marzoukis mit al-Nahda.
Marzouki warnt unaufhörlich vor einer »Rückkehr der Diktatur«. Während seine Parteigänger kurz nach der Wahl skandierten: »Das Volk will eine neue Revolution«, forderte Marzouki »alle Demokraten, deren Sache die Verteidigung der Freiheiten, der Rechte und der Würde ist und nicht der oberflächliche Aspekt, den sie Modernismus nennen, der mit dem Schein und dem Hass auf die arabisch-islamische Identität verbunden ist«, dazu auf, »sich zu einer Bewegung zusammenzuschließen«. Kurz, Marzouki versucht, die Stimmen für ihn in eine organisierte oppositionelle Strömung umzumünzen.
Der Wahlsieger Essebsi hat andere Probleme. Als Staatspräsident hat er gemäß der Verfassung sein Amt als Parteivorsitzender abzugeben, aber sein Nachfolger soll erst im Juni auf einem Parteitag von Nidaa Tounès gekürt werden. Da die Partei die Parlamentswahl gewonnen hat, müsste Essebsi als Präsident einen aus ihren Reihen mit der nun anstehenden Regierungsbildung beauftragen. Aber wen? Den Generalsekretär Taieb Baccouche, einen ehemaligen Gewerkschaftschef? Das könnte hinsichtlich der wegen der ökonomischen Misere wohl unvermeidlichen Wirtschaftsreformen heikel sein. Oder einen anderen? Aber wen?
Zudem erweist sich eine Regierungsbildung angesichts der politisch sehr heterogenen Parteien, die für ein Regierungsbündnis in Frage kommen, als kompliziert. Unklar ist auch, welchen Platz die Islamisten von al-Nahda in der politischen Arena einnehmen werden. In der Opposition oder irgendwie an eine Regierung angedockt? Nicht zuletzt im Ausland werden Stimmen laut, die für eine Regierung der nationalen Einheit unter Einschluss der Islamisten eintreten. Die politische Rolle der Islamisten ist in der ganzen Region umkämpft, wie etwa der Bürgerkrieg im benachbarten Libyen und die harte Repression gegen sie in Ägypten illustrieren. Die Illusionen, die an die Türkei als Modell für eine »islamische Demokratie« geknüpft wurden, sind angesichts des autoritär-islamistischen Kurses von Recep Tayyip Erdo- ğan und seiner AKP geplatzt. In den Augen jener, die eine Trennung von Politik und Religion für nicht zeitgemäß und überflüssig halten, bietet sich Tunesien als eine neue Quelle für solche Illusionen an.