Die Musikerinnen Inga Copeland und Fatima Al Quadiri

Im Schatten der Euphorie

Die Musikerinnen Fatima Al Qadiri und Inga Copeland durchstreifen die Vergangenheit und mischen sie zu Zukunftsvisionen zusammen.

Wenn man vom Niedergang des Pop als demokratischer Kunstform erzählt, darf ein Motiv nicht fehlen: Das Verschwinden des Art-School-Pop. Die Kunsthochschule, besonders in Großbritannien und in den USA einst ein Ort der Zusammenkunft von Unangepassten aller Klassen, diente vielen als Ausweg aus dem eigenen Elend und brachte uns so unterschiedliche Bands wie The Beatles und Scritti Politti hervor. Diesen Pop gibt es nicht mehr. Die Zeiten, in denen sich Jungsbands an Hochschulen gründeten und sich mittels Kunst über ihre sozioökonomische Herkunft erhoben, sind vorbei. Heute besteht der Art-School-Pop aus einem Netzwerk talentierter Musikerinnen, die von der Peripherie das Zentrum elektronischer Musik, den Dancefloor, erkunden. Musikerinnen wie Laurel Halo, die nicht nur die Geschichte von Dancemusic, sondern auch die Experimentierfreude aus 60 Jahren elektroakustischer Musik verinnerlicht haben. Oder Holly Herndon und ihre Versuchsanordnungen mit Richtmikrophon und Laptop, die in phantastisch verzückten Popmelodien enden. Und selbstverständlich Inga Copeland und Fa­tima Al Qadiri, die beide ein neues Album veröffentlicht haben.
Obwohl das nur halb stimmt. Denn Fatima Al Qadiri war nicht auf der Kunsthochschule, sondern hat Linguistik studiert. Dafür gab es ein Stipendium, sodass sie nach New York ziehen konnte. Zuvor lebte sie in Kuwait, ihre Eltern gehörten während der Besatzung durch den Irak 1990/91 zur Opposition. Während die Familie sich in wechselnden Häusern vor der Polizei versteckte und später, als die »Operation Desert Storm« Kuwait-Stadt erreichte, beschäftigten sich ihr Bruder und sie mit Video spielen beschäftigt. 2012 veröffentlichte Al Qadiri die EP »Desert Strike«, benannt nach dem gleichnamigen Videospiel von 1992, in dem man einen amerikanischen Helikopter am Himmel über Kuwait-Stadt steuert. Al Qadiri sampelte die Soundeffekte und verzierte damit ihre unterkühlten Synthesizer-Tracks. »Musik ist eine Art Gespenst: Es geht darum, Erinnerungen und Erscheinungen hervorzurufen, irgendetwas, was dich an deine Vergangenheit denken lässt«, erklärte sie dem Guardian in einem Interview.
Auch Al Qadiris neues Album »Asiatisch« spielt mit ihrer Vergangenheit. Aber statt sich wiederholt mit dem Kriegstrauma zu beschäftigen, evoziert sie eine andere Erinnerung: die an das musikalische Genre Grime, das sie wenige Jahre nach der Jahrtausendwende in London kennenlernte. Oder genauer: die Erinnerung an Sinogrime. 2005 gab es eine Welle von Grime-Tracks, die auf asiatisch klingenden Sounds basierten. Grime hatte von Beginn an eine Faszination für die Oberflächenwelt des Spätkapitalismus, wie sie zum Beispiel im Bürogebäudekomplex Canary Wharf verkörpert ist, der sich in direkter Nachbarschaft zu den armen Stadtvierteln in Ost-London erhebt, in denen Grime seinen Ursprung hat. Im Sinogrime wurde er abgelöst von der Hypermoderne Chinas, der Skyline von Shanghai und Peking.
Für Al Qadiri ist Sinogrime Teil von etwas, das sie als das »imaginäre China« bezeichnet. Dazu gehören Projektionen von Wirtschaftszeitschriften über das chinesische Wachstum und seine frühindustrielle Reservearmee ebenso wie die Pop-Projektionen zwischen Konfuzius und Shaolin-Martial-Arts-Philosophie, wie sie zum Beispiel der Wu-Tang Clan vertritt. »Asiatisch« ist ein Streifzug durch diese Vorstellungen, in dessen Verlauf die Projektionen aber niemals aufgelöst, sondern zu einem Simulacrum aus akustischen Klischees gesteigert werden: fabrikfertige Chorsounds aus gängigen Synthesizern, generische Bambusflöten aus den Sound-Bibliotheken handelsüblicher Audiosoftware, eine Vocoder-Stimme, die von ihrem Drachentattoo erzählt und dann »Speak Chinese, speak with me« fordert. Der Himmel über dem Hafen Shanghais hat die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet ist.
All das kulminiert in einer Coverversion von »Nothing compares 2 U« von Prince. Die Künstlergruppe Shanzhai Biennial gab Al Qadiri ein A-Capella, gesungen in falschem Mandarin. Al Qadiri legte ein paar Synthesizerflächen darunter, die nicht ganz die Tonlage der Gesangsspur treffen und heraus kommt eine Karaokeversion mit einem Fuß in der Kunstwelt. Dort entleiht sich Al Qadiri ihre Strategien der Maskerade. Als Teil des Dance-Kollektivs Future Brown trat sie im vergangenen Jahr im New Yorker MoMA PS1 auf. Während die drei Producer hinter der Bühne vor ihren Laptop-Bildschirmen kauerten, wurde die Bühne von einem Schwarm aus Tänzern geentert, die Basketball spielten. Und als Teil der Künstlergruppe GCC (Gulf Cooperation Council) parodiert sie die Öffentlichkeitsarbeit derjenigen, die den Wiederaufbau in der Golfregion zu ihrem Geschäftsmodell gemacht haben.
All diese Strategien, wie auch die Ästhetik von »Asiatisch«, kennt man aus der Kunst der achtziger Jahre, von Richard Prince oder Cindy Sherman. Aber anders als bei den ähnlich arbeitenden Vaporwave-Musikern ist in den Verfremdungen von Al Qadiri kein Spaß am Spiel mit den kulturellen Zeichen zu erkennen. »Asi­atisch« ist ein Spiel, aber es ist ernst gemeint.
Wo Fatima Al Qadiri auf ihrem Album aus dem vollen Referenzkosmos schöpft, ist »Because I’m worth it«, das Debüt von Inga Copeland, wesentlich spartanischer geraten – bis auf ein Telefonklingeln. Copeland war mal eine Hälfte von Hype Williams, dieser Cartoon-Mischung aus Afrofuturismus, Goth- und Metalzitaten und reichlich Subbass. Dann trennten sich die Wege von Hype Williams und Dean Blunt, die andere Hälfte, veröffentlichte ein ­Soloalbum namens »The Redeemer« (Jungle World 19/2013). Es war sein Trennungsalbum. Über Blues-Gitarren sang er von seiner Verflossenen, zwischendurch streute er Samples von Nachrichten auf einer Mailbox ein, in denen sich das gesamte Trennungsdrama darstellte. Und Inga Copeland lässt auf »Because I’m worth it« das Telefon einfach klingeln. »Advice to young girls« heißt dieser Track, »The city is yours« haucht Copeland mit verfremdeter Stimme ins Mikrophon, darunter liegen elektronische Schlieren. Aufgenommen hat sie Copeland mit Actress, einem dieser britischen Produzenten, deren Musik in keinem der unzähligen Mikrogenres von Dancemusic aufgeht und doch ohne sie nicht existieren könnte. Aber Copeland ist weit davon entfernt, eine Rolle als feministisches role model anzustreben, um sie dann wie beispielsweise Beyoncé für die eigenen Zwecke auszunutzen. Stattdessen macht sie sich rar. Interviews gibt sie nicht, einen Vertrieb hat »Because I’m worth it« ebenso wenig wie ein Label und selbstverständlich erscheint das Album als streng limitiertes Vinyl.
Auf dem Cover von »Because I’m worth it« sieht man Inga Copeland auf einem grobkörnigen Schwarz-Weiß-Foto. Mit verschwitzten Haaren und einem Sport-Oberteil schaut sie müde in die Kamera. Diese Müdigkeit durchzieht ihr ganzes Album. Copeland wildert in den Ruinen längst vergangener Euphoriemomente: Industrial im Jahr 1976, Post-Punk 1979, Jungle 1994, Dubstep zu seiner Blütezeit in den Jahren 2005/2006. Aber anders als bei Fatima Al Qadiri ist Musik für sie kein Medium, das eingesetzt werden kann, um ein Trauma zu verarbeiten. Die Klangerinnerungen werden nicht als Waffe gegen eine unerträgliche Gegenwart eingesetzt, im Gegenteil. Vor dem zur Reife erzogenen Gefühl steht bei Inga Copeland der Affekt. Und so schlägt »Because I’m worth it« ständig um – von Euphorie in Müdigkeit und wieder zurück. Mal erklingt ein präzise an der Schmerzgrenze liegender Sinuston über ein paar umherstolpernden Synthesizern, ein ­anderes Mal findet ein Breakbeat nicht in seinen Groove, bevor er ebenso unvermittelt abbricht wie er begonnen hat. Copeland findet niemals zurück zu längst untergegangenen Formen. Stattdessen mischt sie deren prägende Sounds in einem großen Dub zusammen. Auf »L’Oreal« verfangen sich Breakbeats und dräuende Synthesizer in einer Hallfalle, die man nur auf großen Soundsystems wirklich genießen kann. Wo Fatima Al Qadiri das Spiel mit Andeutungen bis kurz vor die Zukunftsmüdigkeit übersteigert, ist Inga Copeland längst am Nullpunkt angekommen.

Fatima Al Qadiri: Asiatisch (Hyperdub/Cargo)
Copeland: Because I’m worth it (Selbstveröffentlicht)