Der Anschlag auf die Zeitung Libération

Amoklauf gegen den Markt

Der Attentäter, der in Paris einen Fotografen der Zeitung Libération schwer verletzte, bedient sich in seinen wirren Schreiben der Versatzstücke linksradikaler Ideologie.

»Zum Glück ist es kein Araber, sonst würden wir wieder unser Fett abkriegen.« Das war zunächst die Reaktion vieler Migranten, aber auch antirassistischer Französinnen und Franzosen, als die Suchmeldung nach dem Schützen bekannt gegeben wurde, der am Montag vergangener Woche in der Redaktion von Libération einen 23jährigen Fotografen lebensgefährlich verletzt und am selben Vormittag auf das Gebäude der Bank Société Générale im Pariser Geschäftsviertel La Défense gefeuert hatte. Er wurde im Fahndungsaufruf als »Europäer, etwa 40jährig« beschrieben.
Drei Tage später folgte dann ein Anflug von Enttäuschung: doch ein arabischer Name. Am Donnerstag voriger Woche wurde der Name des Festgenommenen bekannt: Abdelhakim Dekhar. Der in Lothringen geborene, 48jährige Sohn eines aus Algerien stammenden Stahlarbeiters war durch den Vergleich seines DNA-Materials mit den Spuren an den Tatorten überführt worden. Er wird ferner dafür verantwortlich gemacht, am 15. November einen Chefredakteur des Fernsehsenders BFM TV mit vorgehaltener Waffe bedroht zu haben. Damals nahm Dekhar allerdings nach wenigen ­Sekunden die Munition aus dem Lauf und ließ sie zu Boden fallen – mit den Worten: »Das nächste Mal verfehle ich euch nicht!« Am Wochenende blieb Dekhar verschwunden, am Montag benutzte er dann seine Waffe. Ihm wird zudem zur Last gelegt, an diesem Tag einen Rentner in La Défense mit der Waffe bedroht zu haben. Er verlangte von dem Rentner, im Auto mitgenommen und auf der Champs-Elysées abgesetzt zu werden. Dort verschwand er zunächst spurlos in der Menschenmenge.
Doch am Donnerstag voriger Woche war die Ungewissheit vorbei. Am Vorabend hatten Polizeibeamte ihn in halbkomatösem Zustand in einem Auto aufgefunden, das in einer Garage in einem Pariser Vorort abgestellt worden war. Dekhar hatte größere Mengen an Schlafmitteln und andere Medikamenten geschluckt. Allem Anschein nach handelte es sich um einen Suizidversuch.

Den entscheidenden Hinweis hatten die Ermittler von einem 32jährigen Bekannten Dekhars erhalten, der mit ihm seit 20 Jahren in Kontakt stand und ihn in den Tagen zuvor beherbergt hatte. Ihm gegenüber hatte Dekhar am Montag voriger Woche erklärt: »Heute habe ich eine Dummheit begangen.« Er war seinem Gastgeber verdächtig erschienen. Auf dessen Computer wurden auch zwei inhaltlich wirre Abschiedsbriefe gefunden, die Dekhar dort getippt hatte. Zwei ähnliche Schreiben sind inzwischen in einem Hotelzimmer aufgetaucht, das der 48jährige am vorvergangenen Wochenende belegt hatte. Dort wurde auch ein Koffer mit persönlichen Gegenständen und einem Ausweis gefunden.
Dekhar ist zwar arabischer Herkunft, aber kein Islamist. Er wurde an einem seiner letzten Tage in Freiheit sturzbetrunken aus einem Hotel im 1. Pariser Bezirk geworfen, wo er für eine Nacht abgestiegen war. Seine wirren politischen Auslassungen, die sich in den insgesamt vier gefundenen Abschiedsbriefen widerspiegeln, zeugen eher von unverdauten Versatzstücken einer linksradikalen Ideologie, zumindest bedient er sich eines linksradikal klingenden Sprachduktus. Wiederholt fällt in den Schreiben das Wort »Faschismus« und es ist von einem »faschistischen Komplott« die Rede, gegen das Dekhar anscheinend zu kämpfen glaubte. In diesem »Komplott« spielen dem Verfasser der Briefe zufolge die »Journal-Nutten« eine Rolle, womit er Journalisten meint.

Überdies empört er sich über das Einpferchen von Menschen in Hochhaussiedlungen in den Pariser Trabantenstädten, das Dekhar, wohl bezeichnend für seine Denkweise, als einen »genozidalen« Vorgang bezeichnet. Manches von dem, was er schreibt, klingt paranoid, anderes ist schwer verständlicher Unfug. So behauptet er: »Der Markt ist von seinem Wesen her faschistisch.« Alles in allem kann man festhalten, dass Dekhar von der Gesellschaft und der Kritik an ihr nicht viel verstanden hat, aber eine Menge kräftig klingender Begriffe benutzt, die irgendwie sozialkritisch erscheinen.
Für die französische Polizei und Justiz war Abelhamid Dekhar kein Unbekannter. Er war im Oktober 1994 im Zusammenhang mit der »Rey-Maupin-Affäre« festgenommen worden. Es ging dabei um eine Schießerei, die fünf Menschen das Leben kostete: einen Taxifahrer, drei Polizisten und den Tatbeteiligten Audry Maupin. Die 19jährige Florence Rey und ihr 22jähriger Freund Maupin hatten damals einen Abstellplatz für Autos an der Grenze zwischen Paris und der Vorstadt Pantin überfallen. Die Polizei deponiert dort die Autos, die wegen Parkverstößen oder Verkehrsdelikten abgeschleppt wurden und kostenpflichtig ausgelöst werden müssen.
Der Plan der beiden jungen Leute bestand darin, die dort ihren Dienst verrichtenden Polizisten zu überfallen, um ihnen ihre Waffen abzunehmen und diese bei späteren Banküberfällen zu benutzen. Das Jagdgewehr, das die beiden mit sich führten, hatte zuvor Abdelhakim Dekhar gekauft, unter Vorlage seines Personalausweises. Deshalb wurde er wegen Beihilfe verhaftet, saß vier Jahre in Untersuchungshaft und wurde 1998 zu einer vierjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die durch die Untersuchungshaft abgegolten war. Daraufhin verschwand er für anderthalb Jahrzehnte nach London, wo ein Bruder und eine Schwester lebten, und arbeitete dort in einem Restaurant. Seine beiden Ehen scheiterten.

Der Fall, der damals vorübergehend die Debatte um eine Wiedereinführung der 1981 abgeschafften Todesstrafe aufflammen ließ, hatte einen politischen Hintergrund. Denn Rey und Maupin zählten zur autonomen Szene. Man muss jedoch darauf hinweisen, dass dieser Begriff in Frankreich ein völlig anderes Milieu bezeichnet als in den Nachbarländern. In Italien waren die Autonomen in den siebziger Jahren Teil einer linken Massenbewegung mit Verankerung in der Arbeiterschaft. In Westdeutschland waren sie zehn Jahre später die stärkste Kraft in der radikalen Linken, bevor sich die Bewegung in den neunziger Jahren stark auszudifferenzieren begann. Dagegen ist das gleichnamige Milieu in Frankreich marginal, weil es andere Kräfte der radikalen Linken gibt, die einen vergleichbaren gesellschaftlichen Platz bereits besetzen: etwa trotzkistische oder anarchokommunistische Gruppen. Als autonom im engeren Sinne wird ein in hohem Maße gewaltaffines Milieu bezeichnet, das als von Polizeispitzeln und von Individuen, die am Rande der gewöhnlichen Kriminalität stehen, durchsetzt gilt.
Florence Rey wurde 2009 aus der Haftstrafe entlassen. Sie war zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden und musste 15 davon absitzen, bevor sie wegen »außerordentlich guter Führung« frei kam. Im Jahr 2010 spielte sie in einem Film von Jacques Ricard mit. Diese Woche ließ sie über ihren Anwalt, den prominenten Menschenrechtler Henri Leclerc, mitteilen, sie sei ungehalten über das häufige Auftauchen ihres Fotos in den Zeitungen. Sie habe »ihre Schuld an die Gesellschaft bezahlt« und jeglichen Kontakt zu Dekhar abgebrochen. Sie bedauere, dass »diese finstere Persönlichkeit nicht ihrerseits alle Lehren aus den schrecklichen Ereignissen vom Oktober 1994 gezogen hat, sondern sich dazu entschied, erneut in schwerwiegende kriminelle Aktionen einzutauchen«.