Charles Margue im Gespräch über die Diskussion über das Ausländerwahlrecht in Luxemburg

»Es ist fraglich, ob man noch von Demokratie reden kann«

Am 20. Oktober wird in Luxemburg ein neues Parlament gewählt. Rund 45 Prozent der über eine halbe Million Menschen zählenden Bevölkerung Luxemburgs gelten als »Ausländerinnen und Ausländer«. Der Verfassung gemäß dürfen sie nicht wählen, doch dagegen gibt es Proteste. Charles Margue ist einer von zwei Direktoren des unabhängigen Luxemburger Meinungs­forschungsinstituts TNS/ILRES. Der Soziologe setzt sich für ein uneingeschränktes Wahlrecht ein.

Ist das Wahlsystem Luxemburgs angesichts der demographischen Situation demokratisch?
Prinzipiell finde ich das problematisch. In einer Situation, wo fast die Hälfte der Einwohner in absehbarer Zukunft Nicht-Luxemburger sein werden, ist es fraglich, ob man überhaupt noch von einer Demokratie reden kann, wie sie normalerweise im parlamentarischen System in Westeuropa verstanden wird. Wie wird Luxemburg in Zukunft politisch funktionieren können, wenn die Hälfte nicht mitbestimmen darf, obschon die meisten der Nicht-Wahlberechtigten seit Längerem hier leben?
Wie erklären Sie sich den Ausschluss?
Ich glaube, dass das Problem mit der portugiesischen Einwanderung in den sechziger Jahren anfing, als es in Luxemburg keine vorausschauende Integrationspolitik gegeben hat. Man hat die Portugiesen nach Luxemburg eingeladen, da man Arbeitskräfte brauchte. Später wurde durch die EU-Erweiterung die Familienzusammenführung erleichtert. Heute zählt die portugiesische Gemeinschaft 16 Prozent der Bevölkerung. Man hätte sich schon früher die Frage stellen müssen, ob politische Mitbestimmung nicht ein guter Integrationsfaktor ist. Die Portugiesen waren von ihrer Mentalität her duldsame Leute, die nichts für sich eingeklagt haben. Ich will ihnen nicht zu nahe treten. Aber noch bis 1975 und auch eine gewisse Zeit nachher wurden sie stark durch den portugiesischen Geheimdienst kontrolliert, so dass sie sehr diskret hier leben und sich auch damit zurechtfinden. In den neunziger Jahren stieg dann die Bedeutung des Finanzplatzes Luxemburg. Da sind sehr viele Leute aus den Nachbarländern und der EU hierher gekommen und ansässig geworden – auch durch die zusätzlichen EU-Instanzen und die EU-Erweiterung.
Es war im Fall der Portugiesinnen und Portugiesen in den sechziger Jahren ja eine strategische Überlegung, Arbeitskräfte aus einer Diktatur anzuwerben, die einen christlichen Hintergrund hat. Die christlich-konservativen Regierungen haben aber keine wirkliche Integration angestrebt?
Ja. Die Politik hat das ignoriert. Es sind keine Weichen gestellt worden. Doch zu der Zeit war die Frage des Ausländerwahlrechts ja noch nicht einmal auf Gemeindeebene angestoßen worden und für alle Parteien ein schwieriges Thema, auch die Liberalen waren sehr zurückhaltend. Es waren also nicht nur die Christsozialen, die außer zwischen 1974 und 1979 immer in der Regierung waren. Alle Regierungen haben mangelhafte ­Integrationspolitik betrieben.
Nach Abschluss der Maastrichter Verträge hat Luxemburg sein Wahlrecht ausgeweitet. Zumindest bei den Kommunal- und Europawahlen sind Nicht-Luxemburger den Luxemburgern gleichgestellt – mit der Einschränkung, dass erstere sich in die Wahllisten einschreiben und eine Residenzklausel erfüllen müssen. Sehen Sie darin einen Fortschritt?
Das ist ein Fortschritt und ich glaube, die Praxis sollte uns zeigen, dass wir jetzt noch ein Stück weitergehen sollten, ohne ängstlich zu sein. Denn die Argumente für die offizielle Verzögerungs­taktik haben sich als unbegründet herausgestellt. Wir sind nicht »überschwemmt« worden von ausländischen Bürgermeistern. Ein Problem ist sicher die niedrige Einschreibequote. Sämtliche NGOs, die sich für das Ausländerwahlrecht auf Gemeindeebene eingesetzt haben, sind frustriert angesichts des geringen Interesses. Und Fakt ist, dass das vermeintlich geringe Interesse jetzt auch den Befürwortern des allgemeinen Wahlrechts vorgehalten wird – nach dem Motto »Die ausländischen Mitbürger sind eh nicht am Wahlrecht interessiert.« Was teilweise ja auch stimmt.
Bei den Kommunalwahlen 2011, an denen Ausländerinnen und Ausländer erstmals teilnehmen konnten, haben sich nur 17 Prozent in die Wahllisten eingeschrieben. Wie könnte man die Beteiligung erhöhen? Wäre es sinnvoll, jeden einfach ins Wahlregister einzuschreiben, oder wäre das eine Art Bevormundung?
In Luxemburg herrscht Wahlpflicht, die allerdings nur Luxemburger betrifft. Wenn man dem einen das Wahlrecht gibt, dann muss man das auch den anderen zu den gleichen Bedingungen geben. Es ist nicht einzusehen, warum die anderen sich einschreiben müssen. Solange der Druck nicht wächst, dass alle Bürger in Europa in einem demokratischen System Stellung beziehen müssen als Wähler, kommen wir nicht weiter. Das ist wie bei der Beteiligung von Frauen über eine Quote. Man kann auf eine »normale«, positive Entwicklung hoffen und womöglich lange warten oder man sagt eben: Nein, so wollen wir nicht mehr leben. Also müssen wir Mittel finden, um aus diesem Demokratiedefizit herauszukommen.
Hat die Ausweitung des kommunalen Wahlrechts für alle Ausländerinnen und Ausländer in Luxemburg schon eine Veränderung bewirkt? Werden die Interessen von Nicht-Luxemburgern besser wahrgenommen?
Zu wenig hat sich getan. Ich glaube, dass das Ausländerwahlrecht insofern auch eine frustrierende Erfahrung ist, da wir nicht sehr viel weiter gekommen sind mit der Integration. Es ist auch schwierig in Zeiten, in denen die Gesamtgesellschaft von einem Individualisierungsprozess gekennzeichnet ist. Wir haben es faktisch mit nebeneinander lebenden Gemeinschaften zu tun. Es ist ein korrektes Nebeneinander, deshalb ist die Nachfrage der Einwanderer nicht sehr hoch.
Seit Kurzem steht es allen in Luxemburg Beschäftigten zu, die eigene Arbeitnehmerver­tretung (chambre des salaries) zu wählen. Das hatte die Ausländerrechtsorganisation Asti erfolgreich beim Europäischen Gerichtshof eingeklagt. Wie weit ist man in Luxemburg noch davon entfernt, auch den nächsten Schritt zu gehen und Ausländern bei den Parlamentswahlen das Wahlrecht einzuräumen?
Das ist nicht abzusehen. Wenn man die Verantwortlichen heute fragt, dann sagen sie: Nein, das wird auch bei den nächsten Wahlen 2019 nicht der Fall sein. Ich weiß nicht, wie die Diskussion in den nächsten Jahren verlaufen wird, doch gibt es auch plötzliche Veränderungen. 1998 erlaubte die konservative Regierung der CSV die doppelte Staatsbürgerschaft, das ging auch schnell. Das Ausländerwahlrecht wurde bisher noch zu wenig thematisiert. Vielleicht ergibt sich bei der anstehenden Verfassungsreform die Gelegenheit, diese Frage so neu aufzugreifen, dass es nur noch ein Gesetz braucht. Eine Verankerung des Ausländerwahlrechts in der Verfassung wird nicht durchzusetzen sein, aber zum Glück wird darauf verzichtet werden, es in der Verfassung ausschließlich Luxemburgern vorzubehalten. Derzeit halten sich Befürworter und Gegner des Ausländerwahlrechts ungefähr die Waage. Junge Erwachsene befürworten es eher. In Krisenzeiten steht diese Frage aber nicht ganz oben auf der Tagesordnung, zurzeit bin ich da eher pessimistisch.
Im Moment sieht alles danach aus, dass die konservative Partei CSV mit Jean-Claude Juncker an der Spitze am Sonntag gewinnen wird. Was wäre anders, wenn auch die 45 Prozent ohne luxemburgische Staatsangehörigkeit das Parlament wählen dürften?
Es ist nicht nur eine Frage der Beteiligung, sondern auch, dass die Nichtwähler eine für das Land atypische demographische Struktur aufweisen. Die »einheimische« Wählerschaft ist viel älter als die Gesamtbevölkerung, die Ausländer sind jünger und stehen aktiv im Leben. Von den Luxemburgern arbeiten viele im öffentlichen Dienst, zu dem Ausländer nur beschränkten Zugang haben. Die Erwartungen und Forderungen sind da natürlich andere. Von drängenden Problemen wie Wohnungsmangel beziehungsweise den sehr hohen Mieten sind Ausländer viel stärker betroffen. Es sind auch nachweislich Zuwanderer, die durch das Luxemburger Schulsystem benachteiligt werden. Wir hätten andere Diskussionen, wir hätten andere Wählerlisten, wenn alle in Luxemburg wohnenden Menschen mitreden und abstimmen dürften.