Kommentiert die Krise des Islamismus

Wer braucht schon Brüder?

Die Krise des Islamismus ist ein Ausdruck der inneren Widersprüche dieses ideolo­gischen Projekts.

Als Islamist hat man viele Feinde. Da wären ­zu­nächst einmal die Un- und Andersgläubigen. In ihrem Fall ist die Lage wenigstens klar, schließlich handelt es sich ja um Un- und Andersgläubige. Auch liberale Muslime geben ein gutes Feindbild ab, da sie der Sharia nicht folgen wollen. Schwieriger ist da schon die Auseinandersetzung mit konservativen Muslimen, die eine Geltung der Sharia im Familienrecht befürworten, aber einen Gottesstaat ablehnen und sich die kleinen Vergnügungen des Alltags wie Shisha und Internetpornos nicht nehmen lassen wollen. Solche »schwachen Muslime« kann man durch Predigen und Druck zu bekehren versuchen.
Die blutigsten Kämpfe aber werden nicht zwischen Islamisten und ihren Gegnern in Ägypten oder Tunesien, sondern zwischen sunnitischen und schiitischen Islamisten in Syrien ausgetragen. Einst entzweite ein Streit um die Nachfolge des Propheten Mohammed die Shiat Ali, die An­hänger Alis, und die Ahl al-Sunna, die Gefolgsleute der Überlieferung. Die aus diesem Streit hervorgegangenen Staatslehren unterscheiden sich kaum. Schiitische Islamisten wollen einen Geistlichen an der Spitze des Staates sehen, während der von der sunnitischen Konkurrenten gewünschte Kalif ein Laie sein kann, doch die Regierungsform ist in beiden Fällen ein Wahlkönigtum. ­­­Die Jihadisten beider Konfessionen kämpfen für die Vereinigung der Umma, der islamischen Gemeinschaft, in einem der Sharia folgenden Staat.
Das ideologische Projekt des sunnitischen Islamismus entstand in der Zeit der antikolonialen Befreiungskämpfe, 1928 gründete der Lehrer Hassan al-Banna die ägyptische Muslimbruderschaft. Er wollte aber nicht nur die Bevölkerung im Kampf gegen die Briten auf religiöser Grundlage einen und sie mit einem autoritären Dis­ziplinierungsprogramm zum Aufbau einer starken Nation in den Dienst nehmen. Von Anfang an ging es auch um die Wiedergewinnung alter imperialer Größe, die nur durch eine Vereinigung der islamischen Staaten denkbar war. Deshalb gründeten die Muslimbrüder islamistische Organisationen in anderen arabischen Staaten.
Der Nationalstaat, auch der »künstliche«, von den Kolonialmächten geschaffene, ist jedoch der Rahmen, in dem um die Macht gekämpft und über die gesellschaftliche Entwicklung ent­schieden wird. Die arabische Sprachgrenze haben die Muslimbrüder nie überwunden, doch auch innerhalb dieser Grenze folgte die Politik der diversen Organisationen bald den Interessen der jeweiligen Führung. Zudem entstand mit der Machtübernahme der schiitischen Islamisten nach der Revolution im Iran ein Konkurrenzunternehmen, das mit der gleichen Selbstverständlichkeit die Führung beanspruchte und etwa lange Zeit die aus der Muslimbruderschaft hervorgegangene Hamas zu seinen Klienten zählte.
Der Islamismus hat sich nationalisiert, doch spricht derzeit wenig dafür, dass dies zu einer ideologischen Mäßigung, einem Übergang zum nationalreligiösen Konservatismus führt. National bleibt allerdings auch der Horizont in den arabischen Staaten. Obwohl das Scheitern des islamistischen Projekts in Syrien noch einmal offensichtlich wird, scheint es so, als müssten sich die Islamisten Land für Land diskreditieren.