Zur Krise al-Nahdas in Tunesien

Al-Nahdas letzte Karte

Die tunesischen Islamisten bringen ihre Anhänger auf die Straße, um die Macht nicht zu verlieren. Doch auch die Opposition demonstriert weiter.

Das ägyptische Szenario versetzt al-Nahda, das tunesische Pendant zu den ägyptischen Muslimbrüdern, in Panik. In der Nacht von Samstag auf Sonntag versammelte sich eine beträchtliche Menge von ihren Anhängern auf der Place de Kasbah in Tunis, die von Ministerien und dem Regierungssitz umringt ist und seit der polizeilichen Räumung der Sit-ins im Jahr 2011 mit Stacheldraht abgesperrt war. Mehr als 50 000 Anhänger al-Nahdas – die Partei spricht gar von 150 000 bis 200 000 – waren dem Aufruf gefolgt, aus dem ganzen Land wurden sie mit Bussen nach Tunis gekarrt. Der Zweck der Übung: ein öffentliches Gegengewicht zum Sit-in der Opposition zu bilden, das vor dem Sitz der verfassunggebenden Versammlung (ANC) einige Kilometer vom Stadtzentrum von Tunis entfernt stattfindet und allabendlich Tausende, vereinzelt gar Zehntausende versammelt.
Le Monde zufolge sagte Rachid Ghannouchi, der Vorsitzende von al-Nahda, bei der Versammlung gehe es nicht um »eine Machtdemonstration«. »Tunesien hat die Revolution exportiert«, so Ghannouchi, »und nun gibt es solche, die den ägyptischen Staatsstreich importieren wollen. Sie haben nicht die Armee (in Tunesien, Anm. d. Red.) dafür gefunden, also benutzen sie Morde, um die Regierung zu stürzen und die Versammlung auflösen zu lassen.« Kurz: Al-Nahda sei das Ziel einer Verschwörung und der Konterrevolution. Im Hinblick auf die von der Opposition geforderten institutionellen Veränderungen sagte Ghannouchi: »Die (verfassunggebende) Versammlung ist eine rote Linie, die man nicht überschreiten darf; der Ministerpräsident ist auch eine rote Linie.«
De facto klammert sich al-Nahda an die Kontrolle der Regierung durch den islamistischen Regierungschef Ali Laarayedh, ihren Trumpf in der Exekutive; und sollte die ANC aufgelöst werden, würden die Abgeordneten al-Nahdas die Immunität verlieren. Seit der Ermordung des linken ­Oppositionellen Mohammed Brahmi am 25. Juli haben 60 oppositionelle Abgeordnete der ANC ihr Mandat suspendiert, seither hat nur eine Plenarsitzung mehr stattgefunden, die ANC ist blockiert.
Die Auflösung der Regierung und der verfassunggebenden Versammlung ist jedoch genau das, was der linke Front populaire und Nida Tounès – der von al-Nahda vorgeworfen wird, die Partei der Anhänger des im Januar 2011 gestürzten Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali zu sein – vorige Woche in einem gemeinsam verfassten Kommuniqué forderten. Der mächtige Gewerkschaftsdachverband UGTT und andere Oppositionsparteien hingegen wollen sich mit der Auflösung der Regierung zufrieden geben, um eine »institutionelle Leere« zu vermeiden.

Dass es zu einer solchen vor Monaten noch für fast unmöglich gehaltenen Allianz zwischen Nida Tounès und Front populaire kommt, ist vor allem zwei Umständen geschuldet. Die neue Verfassung, die laut einem Pakt fast aller politischen Parteien bis zum 23. Oktober 2012 fertiggestellt werden sollte, ist noch immer nicht verabschiedet. Die Opposition befürchtet, al-Nahda verzögere bewusst deren Fertigstellung, um die Zeit dafür zu nutzen, die Institutionen mit ihren Mitgliedern zu infiltrieren und damit die Islamisierung des Staats voranzutreiben. Während Béji Caid Essebsi, der 86jährige Vorsitzende von Nida Tounès, der bereits unter dem Staatsgründer Habib Bourguiba als Innenminister fungierte, bereits im Herbst 2012 die Legitimität der ANC in Frage stellte, waren es in den vergangenen Monaten vor allem überwiegend junge Anhänger des Front populaire, die zur Blockade des ANC und zu Sit-ins vor dem Gebäude der ANC aufriefen.
Schwerer noch wiegt, dass sowohl Versammlungen von Nida Tounès als auch des Front populaire regelmäßig von Anhängern der sogenannten Ligen zum Schutz der Revolution attackiert werden, deren Auflösung die gesamte Opposition wie auch die UGTT fordern, die sie als Milizen ­al-Nahdas betrachten. Aber al-Nahda und die Partei des Präsidenten Moncef Marzouki, der Kongress für die Republik, widersetzen sich einer Auflösung der Ligen. Die Ermordung von Mohamed Brahmi am 25. Juli, die auf dieselbe Weise und nach offiziellen Angaben mit derselben Waffe erfolgte wie der Mord an Chokri Belaïd knapp sechs Monate zuvor, belegt, dass in Tunesien eine Todesschwadron unterwegs ist, der bislang zwei scharfe Kritiker der Islamisten zum Opfer gefallen sind.
In den Augen der Opposition ist al-Nahda als die Partei, die die Regierung dominiert, für diese Morde zumindest politisch, wenn nicht direkt verantwortlich. Die laxe Haltung des ehemaligen Innenministers und heutigen Ministerpräsidenten Ali Laarayedh gegenüber den islamistischen Attacken auf Künstler, Journalisten, Intellektuelle und Oppositionelle, die sich durch das Jahr 2012 zogen, hat nach dieser Sichtweise die Morde begünstigt. Zudem deuten journalistische Recherchen der bereits unter Ben Ali oppositionellen Website Nawaat.org auf eine mit al-Nahda verbundene Parallelstruktur innerhalb des Innenministeriums und der Ordnungskräfte hin, die in die Morde an Belaïd und Brahmi verwickelt sein könnte. Der Verdacht richtet sich insbesondere gegen Parteimitglieder vom »harten« Flügel al-Nahdas, die gute Verbindungen zu salafistisch-jihadistischen Organisationen pflegen. Der nach dem Mord an Belaïd als neuer »unabhängiger« Innenminister installierte Lotfi Ben Jeddou dementierte kürzlich die Existenz einer solchen Parallelstruktur und sprach von Einzelfällen, sagte Le Monde zufolge am Sonntag jedoch, es gebe eine »Liste von Politikern, Journalisten, Intellektuellen und Künstlern«, die potentielle Ziele von Attentaten seien, er kenne deren Namen jedoch nicht.

Für eine weitere Eskalation sorgt eine jihadistische Offensive. Auf dem Berg Chaambi wurden am Montag voriger Woche in einem Hinterhalt acht Soldaten brutal ermordet und ihrer Militärkleidung und Waffen beraubt, den Behörden zufolge handelt es sich bei den Tätern um eine Gruppe Jihadisten, die al-Qaida nahesteht. Ein Dutzend salafistischer Kombattanten seien seither bei Gefechten getötet worden. Am Sonntag starben dort zwei Soldaten, als ihr gepanzertes Fahrzeug einen explodierenden Sprengsatz passierte. Seit Dezember gibt es in dieser Region nahe der algerischen Grenze Zusammenstößé zwischen Nationalgarde und Armee sowie Jihadisten.
Darüber hinaus wurden Befürchtungen laut, auch in Städten könne es zu jihadistischen Attacken kommen. Am Donnerstag voriger Woche wurde nach Angaben des Innenministeriums in Menzel Bourguiba im Norden nahe Bizerte ein Mann verhaftet, dem es beim Bombenbauen einen Arm abgerissen haben soll, am Freitagnachmittag explodierte ein Haus in Manouba nahe der Hauptstadt, dessen Eigentümer, dem Innenministerium zufolge ein »religiöser Extremist«, dabei ums Leben kam. Am Sonntag wurden nach einem Feuergefecht in Ouardia nahe Tunis sechs Männer, verhaftet, die, so das Innenministerium, zu einer »terroristischen Gruppe« gehören, einer wurde dabei getötet. Über diverse weitere Verhaftungen und Waffenfunde wurde berichtet.
Die jihadistischen Attacken haben auch Auswirkungen auf das Sit-in der Opposition vor der ANC. Der Journalist Seif Soudani berichtete auf Nawaat.org, in der Nacht auf den 2. August habe man dort ein militaristisches Vokabular und patriotische Gesänge gehört wie seit den Tagen Ben Alis nicht mehr, zudem habe dort ein Imam ein Gebet abgehalten. In diesem Spiel der Aneignung der gegnerischen Symbole schwenkten Anhänger al-Nahdas auf der Place de Kasbah Nationalflaggen.
Für Dienstagabend, genau sechs Monate nach der Ermordung von Chokri ÏÏÏ, hatte der Front populaire zu einer Großdemonstration in Tunis vor dem Gebäude der ANC aufgerufen, um erneut die Auflösung der Regierung und der ANC zu fordern. Die UGTT sagte ihre Beteiligung zu, aus dem ganzen Land wurden Jugendliche erwartet. Das Kräftemessen zwischen eher säkularen Kräften und den Islamisten setzt sich fort. Ein Ende der institutionellen Blockade ist nicht in Sicht.