Korruption im Gesundheitswesen

Wenn Ärzte rechnen

Falsche Abrechnungen, Patientenhandel, überflüssige Leistungen – Betrug und Korruption sind im Gesundheitswesen verbreitet. Die Beschäftigten sind häufig Mitwisser, aus Angst um ihren Arbeitsplatz schweigen sie.

Anfang März durchsuchten 76 Polizisten und Staatsanwälte 22 Praxen und Wohnhäuser von Ärzten in Berlin, Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Der Vorwurf lautete auf gewerbsmäßigen Abrechnungsbetrug. Die Orthopäden sollen Pa­tienten ohne Beisein eines Arztes in Magnetresonanz­tomographen untersucht haben, was 138 Euro je Untersuchung gekostet hätte. Abgerechnet wurden jedoch offenbar Untersuchungen mit anwesendem Radiologen mit Kosten bis zu 650 Euro. Zwei Ärzte wurden festgenommen, 630 000 Euro beschlagnahmt.
Auch Mitte Januar war die Polizei im Einsatz. Sie durchsuchte in Berlin die fünf ambulanten Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) der Charité in den Stadtteilen Mitte, Wedding und Steglitz sowie Privatwohnungen. Die Klinik soll jahrelang Assistenzärzte in den MVZ eingesetzt, aber Behandlungen von ambulanten Fachärzten abgerechnet haben. Es soll ein Schaden von insgesamt elf Millionen Euro entstanden sein. Im November durchsuchte die Berliner Polizei die DRK-Klinik im Westend und stellte Akten sicher. Das Klinikum soll hochriskante Schwangerschaften und Frühchen ohne entsprechende Zulassung behandelt und die erbrachten Leistungen fälschlicherweise abgerechnet haben. Der Schaden für die Kassen soll 190 000 Euro betragen.

Diese drei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit betreffen nach Angaben der Krankenkassen nur ein Bruchteil der Unregelmäßigkeiten im deutschen Gesundheitswesen. Luftrezepte, Patientenhandel, überflüssige Leistungen – etwa 53 000 Verdachtsfälle von Abrechnungsbetrug haben die Kassen 2010 und 2011 verfolgt. Unter Verdacht standen Ärzte, Apotheker, Sanitätshäuser, Therapeuten, Hebammen, Krankengymnasten, Pflegedienste und Kliniken. In etwa 2 600 Fällen ermittelte die Staatsanwaltschaft. Die Kassen setzten Schadenersatzforderungen von 41,4 Millionen Euro durch. 2012 berichtete der Kassenverband, dass 45,6 Prozent der Krankenhausabrechnungen fehlerhaft seien. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft wandte ein: 96 Prozent der Abrechnungen seien unbeanstandet geblieben. Die von den Kassen genannte Zahl der fehlerhaften Abrechnungen resultiere aus der Tatsache, dass die Krankenkassen hauptsächlich Streitfälle untersucht hätten.
Wie hoch der tatsächliche Prozentsatz der fehlerhaften Abrechnungen auch sein mag: Der Schaden für die Krankenkassen ist groß. Der Nachweis des Betrugs ist schwierig. Ohne konkrete Hinweise gelingt er nur selten. Und für die Beschäftigten in Krankenhäusern und Arztpraxen ist es riskant, gegen den eigenen Arbeitgeber vorzugehen.
Die Pflegerin Brigitte Heinisch etwa arbeitete seit 2002 bei dem privaten Klinikkonzern Vivantes. Sie klagte mehrfach über Überlastung, ebenso wie ihre Kollegen: zu wenig Personal, zu viele Patienten. Heinisch erkrankte und nahm sich einen Anwalt. Vivantes hatte sie wissen lassen, ihre vielen Fehlzeiten gefährdeten ihren Arbeitsplatz. Der Anwalt der Frau erstattete Strafanzeige wegen besonders schweren Betruges. Heinisch berichtete, Vivantes bereichere sich systematisch, die Pflegekräfte würden »angehalten, Leistungen zu dokumentieren, die nicht erbracht worden seien«. Sie wurde entlassen, stritt sich bis Mitte 2012 vor Gericht mit dem Konzern. Schließlich sprach das Landesarbeitsgericht ihr 90 000 Euro Schadensersatz zu.
Heinisch ist eine Ausnahme. Dem Bereichsleiter Gesundheitspolitik beim Verdi-Bundesvorstand, Herbert Weisbrod-Frey, sind gerade einmal zwei Fälle von »Whistleblowern« im Gesundheitswesen bekannt, in denen es zum Gerichtsprozess gekommen sei. Beschäftigte sollten »wegschauen oder gar mitmachen«, heißt es in einer Erklärung von Verdi, sie würden zu »unfreiwilligen Helfern«, wer rede, riskieren seinen Arbeitsplatz. Doch entscheidend ist nach Weisbrod-Freys Aussage: »Die Kollegen haben richtig Angst davor, entlassen zu werden.« Entsprechend gering ist die Neigung, Betrug zu melden.

Vor zwei Wochen beriet der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags über das Thema. Denn Verdi fordert ein »Whistleblower-Schutzgesetz«. Informanten hätten bislang »keinerlei Schutz vor Nachteilen« durch den Arbeitgeber. »Arbeitnehme­rinnen und Arbeitnehmer, die gegen Korruption und Abrechnungsbetrug kämpfen, müssen arbeitsrechtlich auf der sicheren Seite sein«, sagte Verdi-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler. Das sei nicht nur in ihrem eigenen Interesse: Korruption führe dazu, dass am Ende Geld für eine hochwertige Versorgung und ausreichend Personal fehle.
Für »sehr populistisch« hält Roland Stahl von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) solche Aussagen. »Praxismitarbeitern stehen die gleichen Wege offen, auch anonym eventuelle Verstöße zu melden, wie Angehörigen anderer Berufe auch.« Schließlich würden die Stellen zur Bekämpfung der Korruption im Gesundheitswesen die Anonymität derjenigen garantieren, die etwas gemeldet haben. Tatsächlich hatten die gesetzlichen Krankenversicherungen erst Anfang April, zwei Wochen vor der Anhörung im Bundestag, eine Kampagne begonnen. »Haben Sie einen konkreten Verdacht?« fragte der Verband auf seiner Website. Dazu gab es ein Online-Formular, auf dem detaillierte Angaben zu »tatverdächtiger Person und/oder Einrichtung« und »Tatort und Tatzeit« gemacht werden können. Die Hinweise würden »vertraulich behandelt«, war dort zu lesen.
Wenn es nach den wenig erfreuten Ärzteverbänden geht, soll das nicht so bleiben: Das Formular rufe »regelrecht zu Missbrauch und Verunglimpfung der Ärzte und Psychotherapeuten« auf und sei »plumpe Stimmungsmache«, sagte der KBV-Vorstandsvorsitzende Andreas Köhler. Er forderte dazu auf, das Formular »sachlicher zu gestalten« und »die Anonymität der Hinweisgeber aufzuheben«.
Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) pflichtete den Medizinern bei: Der Aufruf sei »völlig überzogen«. Er könne den »Unmut über diesen Stil nachvollziehen«, sagte Bahr. »Krankenkassen sind keine Staatsanwaltschaften und sollen sich auch nicht anmaßen, diese zu ersetzen«. Das hatten die Krankenkassen freilich auch nicht getan.

Die Diskussion über Korruption im Gesundheitswesen war durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2012 entfacht worden. Die Richter hatten entschieden, dass niedergelassene Arzt weder »Amtsträger« noch »Beauftragte« der gesetzlichen Krankenkassen seien, deshalb sei »korruptives Verhalten« bei ihnen nicht strafbar. Konkret ging es um die Annahme von Geschenken von Pharmaunternehmen für die Verordnung bestimmter Arzneimittel. Eine Pharmareferentin hatte Kassenärzten Schecks über insgesamt etwa 18 000 Euro übergeben. Grundlage dafür war ein als »Verordnungsmanagement« bezeichnetes Prämiensystem des Pharmaunternehmens. Das sah vor, dass Ärzte als Prämie für die Verordnung von Arzneimitteln des Unternehmens fünf Prozent des Abgabepreises erhalten sollten. Die Richter sagten, es sei Aufgabe des Gesetzgebers, zu entscheiden, ob dies »strafwürdig« sei. Gegebenenfalls müsse er einen entsprechenden Straftatbestand schaffen. Bislang ist dies nicht in Sicht.