Über die Salafisten in Libyen

Tausche Gewehr gegen iPad

Jihadistische Milizen wurden aus Bengasi vertrieben, erstmals gab eine größere Zahl von Männern ihre Waffen ab. Doch in Libyen setzt sich nicht das staatliche Gewaltmonopol durch.

Lange Schlangen bildeten sich am Samstagabend an den Hauptplätzen von Bengasi und Tripolis. Die Männer standen an, um ihre Waffen dem libyschen Staat zu übergeben. Gewehre, Flakgeschütze, Raketenwerfer, sogar Panzer lieferten sie ab. Gut 1 000 ehemalige Kämpfer sollen jeweils in Tripolis und Bengasi ihre Waffen abgegeben haben.
Das ist genug, um imposante Bilder von der Sammel­aktion zu senden. Tatsächlich aber wenig im Vergleich zur vermuteten Zahl der Bewaffneten. 200 000 ehemalige Kämpfer sollen Schätzungen zufolge nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis bewaffnet gewesen sein. Viele derjenigen, die nun ihre Waffen ablieferten, gehören schon lange keiner Miliz mehr an, sondern hatten die Waffen als Souvenir behalten. Die meisten aktiven Milizen blieben der Sammelaktion fern.
Dazu gehören Salafisten wie Ansar al-Sharia genauso wie lokale Gruppen, die vorgeben, für Recht und Ordnung zu sorgen, aber beschuldigt werden, Bürger zu schikanieren, für Entführungen verantwortlich zu sein und Selbstjustiz an ehemaligen Gaddafi-Anhängern zu üben. Aber auch diese haben noch ihre Milizen. So entführten im Juli Männer aus Bani Walid den 22jährigen Omran Shaaban aus Misrata. Er hatte im Oktober 2011 Gaddafi aufgespürt und galt daher als Revolutionsheld. Shaaban wurde gefoltert und schließlich durch Vermittlung des Parlamentspräsident Mohammed al-Magarief freigelassen, erlag aber Ende September in einem französischen Krankenhaus seinen Verletzungen. Mit dem Versprechen, die Täter hart zu bestrafen, konnte die Regierung bisher eine Blutfehde zwischen Misrata und Bani Walid verhindern.

Daneben gibt es Milizen, die im Dienst des staatlichen Sicherheitskommandos stehen. So sollen etwa die Brigade 17. Februar und Rafallah al-Sahati in die Armee integriert werden. Bisher agieren sie allerdings weitestgehend autonom.
Ein Erfolg war die Sammelaktion trotzdem. Denn erstmals fand ein Aufruf zur Abgabe der Waffen überhaupt Gehör. Die Übergangsregierung hatte zuvor versucht, die ehemaligen Kämpfer mit Jobs zu belohnen, falls sie ihre Waffen freiwillig abgäben. Auch hatte sie Waffen zurückgekauft. Diesmal übernahm der private Sender ­Libya al-Hurra (Freies Libyen) allein die Initiative. Der Sender wurde bereits zu Beginn der Revolution gegründet und genießt hohes Ansehen in der Bevölkerung. Libya al-Hurra gewann zudem einige Firmen für das Sponsoring der Aktion: Es gab iPads, Flachbildschirme und sogar zwei Hyundais zu gewinnen.
Doch diese Anreize waren nach Aussage der meisten ehemaligen Kämpfer kein Grund für sie, ihre Waffen auszuhändigen – schließlich gab es schon zuvor Geld. Vielmehr haben der salafistische Angriff auf das US-Konsulat und der Tod des amerikanischen Botschafters den notwendigen Schock ausgelöst, um die Bürger und Clanchefs zum Handeln zu bewegen.
Am 15. September, nur vier Tage nach den angeblich gegen ein antiislamisches Video gerichteten Protesten, bei denen das US-Konsulat in Brand gesetzt worden war, trafen sich die Clanchefs des östlichen Libyen in Bengasi. Regierungsvertreter waren eingeladen, aber die Clans machten deutlich, dass Repräsentanten des Staats nur Gäste seien. Die Versammlung verdammte die salafistischen Ausschreitungen aufs Schärfste und forderte die »Söhne der Stämme« auf, ihre Waffen auszuhändigen, ihre Milizen aufzulösen und mit der Nationalen Armee zusammenarbeiten. Am Ende hatten sich Führer von 17 Milizen bereit erklärt, sich dem Kommando der Armee zu unterstellen.
Am 21. September gingen 30 000 bis 40 000 Menschen in Bengasi auf die Straße, um gegen den salafistischen Terror zu demonstrieren. Ihre Forderungen entsprachen den Beschlüssen der Clanversammlung. In anderen Städten gab es vergleichbare Demonstrationen, wenn auch mit weniger Teilnehmern. Nach dem Ende der fried­lichen Demonstration in Bengasi stürmten mehrere hundert Demonstranten drei Stützpunkte islamistischer Milizen. Es gelang ihnen, die Milizen aus der Stadt zu vertreiben, allerdings kamen dabei elf Menschen ums Leben, über 60 wurden verletzt.

Ansar al-Sharia bekundete danach, sich auflösen zu wollen. Die sich selbst als Jihadisten bezeichnenden Mitglieder der Gruppe werden für den Angriff auf das US-Konsulat verantwortlich gemacht. Im Osten Libyens hatten sie zuletzt ihre Macht immer weiter ausbauen können. In Bengasi kontrollierten sie einen ganzen Stadtteil, einschließlich eines Krankenhauses. Einwohner der Stadt verspotteten die Gegend als Klein-Kandahar, weil die Islamisten traditionelle afghanische Kleidung trugen. Viele von ihnen haben in Afghanistan gekämpft.
Doch diese Machterweiterung der Salafisten hat in Libyen keine gesellschaftliche Basis, sondern war vor allem der Schwäche des Staats geschuldet. Bei den Parlamentswahlen im Juli waren zwei salafistische Parteien zugelassen – anders als in Tunesien, wo sich alle Parteien zur säkularen Verfassung bekennen mussten. Die Furcht vor einem Wahlerfolg der Salafisten war groß. In Ägypten hatten sie über 20 Prozent der Stimmen gewonnen. Doch in Libyen erhielten sie nur 1,5 Prozent. Vor den gewalttätigen Protesten in Bengasi hatten die Salafisten weite Teile der Bevölkerung gegen sich aufgebracht, weil sie an mehreren Orten Gräber von Sufi-Heiligen zerstört hatten. Der Sufismus ist in der libyschen Bevölkerung weit verbreitet, gilt den Salafisten aber als häretische Abweichung.
Anders als in Tunesien und Ägypten stellen Politiker in Libyen die Salafisten als Fremdkörper dar. So sagte erst kürzlich der Gründer der Demokratischen Partei, Ahmed Shegrabi, der Tripolis Post: »Das saudische Regime mit seinen umfangreichen finanziellen Ressourcen und seiner antidemokratischen Wahhabi-Ideologie führt den Kampf gegen die revolutionären Kräfte an. Seine Strategie ist darauf gegründet, in einigen Ländern die Konterrevolution zu unterstützen und in anderen die fundamentalistischen Kräfte.«
Diese harte Abgrenzung mag erstaunen, ist doch die libysche Gesellschaft weit konservativer und religiöser als die der Nachbarländer. Niemand stellt das allgemeine Alkoholverbot in Frage. Häufig hört man, dass es ein Segen sei, dass das Land keine christliche Minderheit habe, so blieben einem die Probleme der Nachbarn erspart. Auch gibt es bisher keine Diskussion darüber, ob die Huddud, die körperlichen Strafen auf Basis der Sharia, wieder abgeschafft werden sollen. Gaddafi hatte sie in einer abgeschwächten Version eingeführt, so wird etwa bei Diebstahl nicht die Hand, sondern ein Finger abgehackt. »Die werden fast nie angewendet«, betonen Menschen, die man danach fragt. Und: »Was soll man machen: Das ist die Religion.«
Als sich ein italienischer Minister im Februar 2006 bei einem Fernsehinterview mit einem ­T-Shirt zeigte, auf dem eine Mohammed-Karikatur abgebildet war, kam es in Bengasi am 17. Februar zu wütenden Protesten vor dem italienischen Konsulat. Die Revolutionsaktivisten bezogen sich stolz auf diesen Protest und verabredeten sich im vergangenen Jahr auf Facebook an diesem Tag für die Revolution.

Doch als salafistische Milizen das US-Konsulat in Brand steckten, ließen sich die Bewohner Bengasis nichts vormachen. Anders als in Ägypten schafften es die Salafisten zu keinem Zeitpunkt, durch die Skandalisierung des antiislamischen Videos die Stimmung aufzuheizen. Zu offensichtlich war, dass der Film nur ein Vorwand und die US-Regierung nicht verantwortlich war. Der Parlamentspräsident Mohammed al-Magarief bezog kurz nach dem Anschlag im Fernsehsender NBC deutlich Stellung: Der Angriff sei eine lange geplante Aktion, die nichts mit dem antiislamischen Video zu tun habe. Die Angreifer hätten Panzerabwehrraketen und Mörsergranaten eingesetzt. »Die Reaktion auf den Film hätte sechs Monate früher erfolgen müssen, wenn es echter Ärger gewesen wäre«, erläuterte er. »Sie wurde bewusst auf den 11. September verlegt, um eine besondere Botschaft zu senden.«
Der Konservatismus der libyschen Gesellschaft zeigt sich auch in der starken Rolle, die die Stämme nach wie vor spielen. Gaddafi hatte sie geschickt gegeneinander ausgespielt und so seine Macht gesichert. Vor allem aber übernahmen sie in der »staatsfreien« Jamahiriya, der »Republik der Volksmassen«, die offiziell allein von gewählten Komitees verwaltet wurde, viele Aufgaben des Staates. Als Libyen unter dem Druck der inter­nationalen Sanktionen in den neunziger Jahren an Wirtschaftskraft verlor, übertrug Gaddafi den Stämmen noch mehr Macht, um ihnen die Verantwortung für sinkenden Wohlstand und Arbeits­losigkeit zuzuschieben. Doch statt zum Zielpunkt des sozialen Protests zu werden, führten die Clanchefs die Revolution an. Noch während des Krieges im Sommer vergangenen Jahres fragte ein junger Mitarbeiter der Übergangsregierung entnervt die Jungle World: »Was redet ihr Journa­listen immer von Islamisten? Damit haben wir kein Problem. Die Stämme sind unser Pro­blem.«
Insofern ist die Entwicklung in Libyen ambivalent zu beurteilen. Der Salafismus hat dort keine Chance, auch falls er jetzt noch einmal mit verstärkter Gewalt zurückschlagen sollte. Die Stammesführer haben nichts übrig für Extremisten und sie haben das Sagen in der Gesellschaft – das haben das Treffen in Bengasi und die darauffolgende Demonstration gezeigt. Doch ihre Abneigung gegen den islamischen Extremismus entspringt einer zutiefst konservativen Haltung. Sie befürworten zwar Demokratie. Aber das jetzige Parlament, in dem zwei Drittel der Abgeordneten Unabhängige sind, ist letztlich ein Stammesparlament. Dass die salafistischen Milizen nun aus Bengasi vertrieben wurden und die Menschen dem Aufruf nachkamen, ihre Waffen abzugeben, macht deutlich, dass die Stammesführer und nicht die Regierung Ordnungsmacht sind.