War beim Alternativgipfel

Rot war nur das Armband

Mit Papierschnipseln wollten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Gegengipfels in Rio de Janeiro nicht bewerfen lassen. Weniger Protest lösten das Sponsoring durch Konzerne und die Anwesenheit unzähliger Esoteriker aus.

Brasilien gab sich grün. Während der Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung (»Rio+20«) wurde die riesige, über der Stadt thronende Christus-Statue grün angestrahlt, und Globo und Band, die beiden größten Medienunternehmen des Landes, präsentierten Infotainment zum Thema Umwelt. Zu einem bedeutenden internationalen Gipfeltreffen gehört als informelles Begleitprogramm heutzutage aber auch eine alternative Konferenz.
Die zentrale Gegenveranstaltung, die Cúpula dos povos (Gipfel der Völker), fand im Aterro do Flamengo, einem Park nahe dem Zentrum Rio de Janeiros statt. Hier trafen sich vom 15. bis zum 23. Juni unzählige NGOs, Umweltorganisationen, Politiker und Vertreter indigener Gruppen, um Gegenentwürfe zur green economy aufzuzeigen. Allerdings nahmen auch viele Esoterikgruppen teil, und letztlich war die Cúpula dos povos geprägt von unvereinbaren Gegensätzen.
Gruppen aus ganz Brasilien nahmen teils dreitägige Busfahrten in Kauf, um dabei zu sein. Viele Hostels, insbesondere an der Copacabana, waren ausgebucht, dort logierten allerdings nicht Protestierende, sondern Militärpolizisten, denn auch sie kamen aus dem ganzen Land zusammen.
Die meisten Demonstrantinnen und Demonstranten übernachteten in Protestcamps, die Hörsäle der staatlichen Universitäten wurden zu Schlafräumen umfunktioniert, im Sambódromo, wo sonst die Paraden zum Karneval stattfinden, kamen sogar 12 000 Menschen unter. Das Potential für eine Menge Aktionen war also vorhanden, und so gab es auch täglich Veranstaltungen und Demonstrationen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Den Auftakt bildete am Montag voriger Woche der »Marsch der Frauen« unter dem Motto »Frauen gegen die Vermarktung unserer Körper, unserer Leben und der Natur«, etwa 10 000 Menschen demonstierten gegen »das patriarchale, homophobe und rassistische Kapitalismusmodell, das heute unter dem Namen green economy läuft«. Viele blanke Busen – Umstehende fragten sich, ob das jetzt Feminismus sei oder doch eher nicht – warben für Gleichberechtigung, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und gegen Gewalt an Frauen. Auch die größeren und bekannteren Gruppen wie die Landlosenbewegung MST hatten zu der Demonstation aufgerufen, so war die relativ geringe Beteiligung verwunderlich. Auch die Polizei hielt sich zurück.
Kaum war die Abschlusskundgebung am Largo da Carioca beendet, begann die nächste Demonstration, der »Marsch des Rückschritts«. Etwa 5 000 Menschen wollten die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff zur Abkehr von Großprojekten wie dem Staudammbau am Rio Xingu bewegen und machten auf die zwielichtige Rolle des Hauptinvestors, der Brasilianischen Entwicklungsbank, aufmerksam. Antônio Cleide Gouveia aus Paraíba von der Comissão Pastoral da Terra, einer Gruppe von Befreiungstheologen, sagte: »Wir protestieren gegen diese Großprojekte, die eine Expansion des Kapitalismus darstellen, der immer mehr die Natur zerstört und die verarmte Landbevölkerung durch Staudämme, Wasserkraftwerke und Waldrodung verdrängt.« Diesmal achteten Polizisten in voller Kampfmontur streng auf die Einhaltung der Auflagen. Anwohner warfen aus den Hochhäusern Papierschnipsel, um sich mit den Demonstrierenden zu solidarisieren, was von diesen jedoch mit Buhrufen und einem Pfeifkonzert quittiert wurde. Umweltschutz ist eben Umweltschutz.
Am Dienstag hatte dann Marina Silva ihren Auftritt bei der Cúpula dos povos. Die ehemalige Umweltministerin der regierenden Arbeiterpartei wechselte 2009 zur Grünen Partei und erlangte 2010 als deren Präsidentschaftskandidatin 19,3 Prozent der Stimmen. Im vergangenen Jahr trat sie auch aus der Grünen Partei aus. Silva appellierte an Rousseff: »Brasilien braucht eine besorgte Frau an der Spitze, die die Welt zu einer neuen, nachhaltigen Wirtschaft führt.« Sie berief sich auf Angela Merkel, die eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der ökonomischen Krise in Europa spiele. Am späten Nachmittag riefen dann noch die in Via Campesina zusammengeschlossenen Landarbeiterorganisationen zu einer Demonstration gegen den Bergbaukonzern Vale auf.
Die größte Demonstration war der »Marsch der Völker« am Mittwoch vergangener Woche. Nach Angaben der Veranstalter beteiligten sich 80 000 Menschen, die großen Medienkonzerne meldeten nur 10 000 bis 20 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Bis zur Abschlusskundgebung blieb es friedlich. Als eine Gruppe von Pazifisten dann auf der Straße weitertanzte und von Nächstenliebe sang, setzte die Polizei Schlagstöcke und Pfefferspray ein. Nachdem die Straße frei war, begannen die Polizisten auch die Bürgersteige zu räumen, obwohl von den Protestierenden keine Provokationen ausgingen.

Deutlicher als bei den Aktionen auf der Straße konnte man das Dilemma der Cúpula dos povos bei den Vorträgen, Workshops und Podiumsdiskussionen der folgenden Tage erkennen. Letztlich schlenderten die Menschen über das Gelände wie über einen Jahrmarkt, von einer Proteststimmung war wenig zu spüren. Indigene verkauften Schmuck und »traditionelle« Bögen, Hippies ihren selbstgemachten Ramsch, eine Gruppe von Jüngern der Hare-Krishna-Bewegung beschallte den Park die ganze Woche mit ihrem penetranten Mantra »Hare Krishna, Hare Rama«. Sustainability-Yoga und Meditation, Dragon Dreaming (eine neue Form esoterischer Traumtänzerei) und die Chakren des Körpers drängten politische Ziele in den Hintergrund. Sogar die Zeugen Jehovas waren da.
Terezinha Sabino de Souza vom MST erinnerte an die drei wichtigsten Programmpunkte der Bewegung: den Kampf um das Land und für die Enteignung der Großkonzerne, eine Agrarreform, die der Landbevölkerung eine ökologische und nachhaltige Bewirtschaftung sowie einen Ausweg aus der Armut ermöglicht, und die Umwandlung der Gesellschaft in ein sozialistisches, gerechteres System. Es gab eine Ausstellung über »Nachhaltigkeit«, die von Vale, eben jenem Konzern, gegen den sich am Dienstag eine Demonstration gerichtet hatte, sowie vom halbstaatlichen Energiekonzern Petrobras gesponsort wurde. Die Ausstellung des Künstlers Vik Muniz, der seine Kunstwerke aus Müll formt und Menschen dazu einlud, ihren Müll mitzubringen, wurde von Coca-Cola unterstützt. Keinen Konzern als Sponsor hatten die Gruppen, die sich für die Legalisierung von Cannabis einsetzen, doch blieb unklar, was dieses Anliegen mit Umweltschutz zu tun hat.

So zog Bernardo Camara von Greenpeace ein eher ernüchterndes Fazit: »Die brasilianischen Umweltbewegungen sind sehr zusammenhangslos und haben oftmals unterschiedliche Interessen, es geht nur langsam voran.« Greenpeace hatte einen der größten Stände auf der Cúpula, die Rainbow Warrior III ist schon seit einiger Zeit in Brasilien unterwegs und ankerte im Hafen, dennoch konnten in der gesamten Woche nur 5 000 Unterschriften für eine Petition gegen die Abholzung des Regenwaldes gesammelt werden. Um die Liste im Nationalkongress einzureichen, sind 1,4 Millionen Unterschriften nötig.
Man gewann nicht den Eindruck, dass Staat und Unternehmen in Brasilien den Gegengipfel als Gefahr für ihre Interessen betrachteten. Wer in den Protestcamps schlief, bekam ein rotes Armband, mit dem er die ganze Woche kostenlos U-Bahn fahren durfte, und Essensmarken im Wert von etwa 50 Euro. Finanziert wurde dies von der Staatsbank Caixa, der Stadtregierung und der Bahngesellschaft.