Zum Tod von Georg Kreisler

Wenn die Flussgazellen Mozart singen

Er war kein Engagierter, sondern ein Künstler. Ein Nachruf auf Georg Kreisler.

Georg Kreislers Schaffen ist eines der wenigen Beispiele, für das der Satz, ein Werk lasse sich nicht klar einordnen, keine abgedroschene Phrase und Legitimation modischer Unverbindlichkeit darstellt, sondern schlicht sachlich zutrifft: Was er geschrieben und vorgetragen hat, ist formal und inhaltlich eine literarisch-musikalische Kritik an Gewissheiten, Glaubenssätzen und allen Formen identitärer Rückversicherung. In dieser auflösenden Kraft und der dadurch eröffneten Vieldeutigkeit liegt seine ästhetische Qualität. Und umgekehrt offenbart sich gerade an der Erscheinung Kreislers das anhaltende Bedürfnis, ihn einzuordnen, die fugenlose Fusion von irrationaler Verfolgungs- und rationalistischer Rubrizierungswut im nachfaschistischen Zustand: Ihn, den Juden, Emigranten und dann Zurückgekehrten, der als Spötter, der auch noch relativ erfolgreich war, eine permanente Beleidigung für die demokratisierte Volksgemeinschaft darstellte, hätte man wenigstens gerne kategorial identifiziert und theoretisch »zu fassen bekommen«. Eine Gesellschaft, die ihre innere unheilbare Gewaltförmigkeit stillgelegt hat und feierlich beschweigt, um sie desto ungehemmter gegen Außenstehende zu richten, konnte es nicht ertragen, dass da einer das Verdrängte ans Tageslicht holte, wie es in dem Lied »Als der Zirkus in Flammen stand« geschieht: »Selten haben wir so etwas gesehen/selten haben wir alle so gelacht/Denn aus Dingen, die hier so geschehen/haben wir uns ja nie sehr viel gemacht (…)/Nimmt es da noch irgendjemand Wunder/dass man unsre kleine Stadt verflucht/dass man weg will von dem ganzen Plunder/und sich sein Vergnügen einfach sucht?« Dass einer, der angesichts seines Lebenswegs allen Anlass zu Verbitterung gehabt hätte, statt mit pathetischen Anklagen mit boshaftem Witz hervortrat, hat man ihm wohl am meisten übelgenommen; denn ein Kollektiv kann zur Not auch mit Anklagen und Vorwürfen leben – dass man es aber auslacht, kann es überhaupt nicht ertragen.
Dass die Versuche, ihn auf die Rolle des »Makabristen« oder »Meisters des schwarzen Humors« festzulegen, letzten Endes darauf hinausliefen, ihn durch scheinbar freundliche Umarmung unschädlich zu machen, hat Kreisler schnell gemerkt und zum Anlass genommen, sich mehrmals in seiner Karriere auf bewundernswerte Weise neu zu erfinden und gerade durch diesen permanenten Wandel unbeirrt bei sich zu bleiben. Auf das »goldene Wiener Herz« hatte er in seinem »Taubenvergiften« oder dem »Opernboogie« gezielt und damit die Probe auf die propagierte Gemütlichkeit und Leutseligkeit gemacht, die sich als Maske von soeben erst ausagiertem Hass und Ressentiment entpuppten – und musste erfahren, dass die Angesprochenen bald dazu übergingen, die Provokation dadurch zu neutralisieren, dass sie sie zum »Hit« stilisierten und als Gaudi und Volksbelustigung zur eigenen Selbstbestätigung sich einverleibten. Hatten bereits die »Lieder zum Fürchten« von Beginn der sechziger Jahre einen deutlich schärferen Ton angeschlagen, so gab es bei Kreisler gegen Ende der sechziger Jahre etwas, das man oberflächlich als »Politisierung« bezeichnen könnte: eine pointiertere, explizitere, unverblümtere Art der Ansprache. Aber es gereicht Kreisler zur Ehre, dass er nie ein »engagierter« oder »politischer Künstler« wurde. Waren die deutschen Liedermacher, die Degenhardts, Waders, Süverkrüps, Kittners und all die anderen »Kraut- und Rübenquatschis« (Eckhard Henscheid) de facto und letzten Endes deutsche Heimatsänger, die ihre Vaterlandsliebe einstweilen in Form der Selbstanklage und des draufgängerischen Proletarierkults zelebrierten, so hat Kreisler, für den es, wenn er danach gefragt wurde, nur eine »Heimat« gab, nämlich die Kunst, diese zu keiner Zeit und an keiner Stelle zugunsten von »Engagement« oder Propaganda für irgendein Kollektiv preisgegeben. Mit der Studentenbewegung der späten sechziger Jahre und anderen Bewegungen sympathisierte er ebenso, wie er ihnen gegenüber stets Distanz wahrte, denn dafür wusste er zu genau, wozu Volkserhebungen nicht nur im deutschen Sprachraum aus eigener Kraft tendieren.
Anstatt kraftmeierisch ein widerständiges Kollektiv zu beschwören, stellte Kreisler 1969 in seinem Lied »Warum?« auf leise, unprätentiöse und deshalb umso nachdrücklichere Weise ein paar einfache, aber entscheidende Fragen, anhand derer die Schande offenbar wird, dass die Leute sich freiwillig in eine unfreie Existenz fügen. Das kinderliedhafte Chanson, eine der gelungensten Schöpfungen deutschsprachiger Lyrik überhaupt, endet mit der Strophe: »Warum sind die Leute so fügsam und fürchten den leisesten Wind/so wie Gerten, geschmeidig und biegsam/und im Leben und Tode genügsam?/Sei nicht wie Leute, mein Kind!« Wenn es überhaupt so etwas wie ein »Thema« gibt, das Kreislers Texte immer wieder umkreisen, dann ist es das ungelebte Leben, die den Tod noch zu Lebzeiten vorwegnehmende leichenhafte Starre, in die viel zu viele verfallen, die sich verbissen ins Unvermeidliche fügen und dies auch noch stolz ihre »Identität« nennen. »Fahrn’s amal«, ebenfalls von 1969, ist eines jener bodenlos abgründigen Wiener Lieder, eine Miniatur, in der in eineinhalb Minuten mit einer fast unmerklichen Steigerung zunächst eine Fahrt mit der Straßenbahn ins Grüne, dann ein Kinobesuch, eine Liebelei und ein Wirtshausbesuch mit dem Spezi angeregt wird, bis die letzte Strophe mit »Leben’s amal« alles jäh auf die Todesverfallenheit der armseligen Durchschnittsexistenz zulaufen lässt, so dass die Rekapitulation des Anfangs »Fahrn’s amal« zur blanken Drohung gerät.
Das Lied »Allein wie eine Mutterseele« aus dem gleichnamigen Album von 1974 macht dann unmissverständlich deutlich: »Aber allein wie eine Mutterseele,/so mach Revolution! Dann ist sie deine./Zieh’ Leine und stütz’ dich nicht auf Kampf- und Bachchoräle! (…) Sei schwarz wie ein Kohlpechrabe,/wirf dich wie ein Sperrangel so weit!/Hab’ keine Angst, hab’ Zeit!«
Ein Publikum vernunftfähiger Individuen wollte er mit seinen Liedern konfrontieren, keine Gemeinde von sich erleuchtet Dünkenden mit Gesinnungskitsch bedienen, und deshalb tritt das Künstlerische, und das heißt: das ästhetisch Selbstbezügliche bei Kreisler gerade dort hervor, wo seine Texte, oberflächlich betrachtet, »politisch« oder »engagiert« erscheinen. Es gibt keine »Themen«, die »behandelt«, keine »Thesen«, die notdürftig bebildert werden, keine »Aussagen«, die dem Kunstwerk abgerungen werden können, keine identitätsstiftenden Parolen, mit deren Hilfe Individuen zu Kollektiven verklumpen und sich ihrer selbst versichern dürfen.
So wie es Kreisler nie lange an einem Ort hielt, war es ihm zuwider, auch und gerade dort, wo er selbstverständlich »zu Hause« war, in der Kunst, in eine Masche zu verfallen und dadurch sublimierte Heimattümelei zu betreiben. Ein wahrhaft moderner Künstler, der den Vergleich mit der kritischen Methode Arnold Schönbergs, bei dem er in Los Angeles Komposition studieren wollte, jederzeit standhält, war Kreisler, weil seine Werke davon zeugen, dass Kunst heutzutage nur noch als permanente und in permanenter Selbstkritik überhaupt noch gelingen kann. Kunst wendet sich auf ihrem eigenen Terrain und mit den ihr eigenen Mitteln gegen ihr Dasein als ästhetischer Schein, kraft dessen sie sich dazu eignet, als schaler Trost und geistiges Marschgepäck, als ein angeblich Heiles in einer unheilvoll zerrissenen Welt zu fungieren, wie es im Gedicht ohne Musik »Der Tod im Konzert« beschrieben wird: »Und was Mozart im Tiefsten empfunden hat/wird verwandelt und heißt jetzt Kultur/Man empfängt es um Punkt zwanzig Uhr/und vergisst, wo die Welt ihre Wunden hat.« Kraft ihrer radikalen Selbstinfragestellung – die das exakte Gegenteil »engagierter« Selbstpreisgabe ist –, also aus einer immanenten Bewegung heraus, gelang Kreisler immer wieder das fast Unmögliche: eine an Johann Nestroy und Joachim Ringelnatz geschulte Komik auf der Höhe der Zeit, die sich gegen allen selbstzufriedenen Humor richtet, sei’s in der Variante krachend-jovialen Schenkelklopfens, sei’s in der Form feinsinnig-behaglichen Kunstgenusses. Nicht die geringste Leistung Kreislers ist es, für sich das Amusement, die Unterhaltung ohne störende Beimengungen von »Sinn«, gegen die Kulturindustrie restituiert zu haben, die genau das hintertreibt, indem sie es verspricht.
Durch die Fähigkeit zur Selbstreflexion wächst seiner Komik eine Weltzugewandtheit zu, kraft derer sie sich zur Erkenntnis schärft. Aber diese Welthaltigkeit und Erkenntnisfunktion ist bei Kreisler durch die spezifische Selbstvergessenheit der künstlerischen Autonomie vermittelt: Seine Aussage, dass andere die »Provokation suchen (…), anstatt sie absichtslos stattfinden zu lassen«, umreißt ex negativo seine Haltung. Durch selbstvergessene Sprachspielerei – am kompromisslosesten ausgeprägt im hinreißenden Nonsens von »Max auf der Rax« – hat er, der nach 17 Jahren in der Emigration seine Muttersprache wieder neu lernte, die zutiefst korrumpierte deutsche Sprache neu erfunden. Sprache ersteht bei Kreisler neu als jener Leib, als den Karl Kraus sie schon bestimmte. In den überraschenden Reimen und rätselhaften Sprachbildern gewinnen die Worte ihre polemische Treffsicherheit, ihre aufschließende, ja erlösende Kraft zurück, die Fähigkeit, mit den Erfahrungen des Hörers auf unvorhersehbare Weise zu »zünden« und die verstreuten Erfahrungen so zusammentreten zu lassen, dass sie lesbar werden.
Der Vielfalt der sprachlichen Tonfälle, die Kreisler zu Gebote stand, entspricht eine ebenso souveräne Verfügung über musikalische Charaktere und Stile. Die zahlreichen direkten Zitate und vielfältigen Anklänge an die klassische Musik, der der Komponist Kreisler sich stets verpflichtet sah, sind bei ihm weder Ausdruck von Bildungsprotzerei, noch fungieren sie als eine »Brücke« für den Hörer. Vielmehr werden die zum Bildungsgut depravierten Werke – Gustav Mahlers Verfahren durchaus ähnlich – noch einmal von innen erhitzt und sowohl innermusikalisch als auch in der Konfrontation mit dem Text auf den Prüfstand gestellt – wenn etwa Carl Maria Webers Bauernwalzer aus dem »Freischütz« zum Zwischenspiel des »Lieds für Kärntner Männerchor« wird, über Mozarts »Sonata Facile« ein Text gelegt wird, in der ein Wiener sich in die Zeiten unter dem »guaten alten Hitler« zurückraunzt, oder in einem anderen Wienerlied ein Lungenkranker zu einschmeichelnder Schrammelmusik röchelt: »I brauch koan Walzer, i brauch ned amal an English Waltz./Bringt’s mi ins Krankenhaus, die Krankenkassa zahlt’s.« Dass Kreisler auch avanciertes Komponieren im eigentlichen Sinne spielerisch beherrschte, kann man seinen beiden im Alter komponierten Opern anhören und schon früher einigen Titeln des Albums »Allein wie eine Mutterseele«: Der von einem Kammerensemble begleitete Song »Wenn die Mädchen nackt sind« ist mit seinem aufgelösten Tonsatz sowie den sparsam und überlegt gesetzten Klangfarben schlicht ein Meisterwerk.
Was an Kreisler »politisch« heißen mag, ist gerade das Beharren auf der Kunst um des zweckfreien, irrwitzigen, unberechenbaren Phantasierens willen. »Wirklichkeit heißt Spesen/Träume sind Ertrag« heißt es in »Barbara«, und die Utopie, die er in »Der Tag wird kommen« ausmalt, ist eine, in der wie bei den jüdischen Propheten tatsächlich alles anders geworden ist, selbst die Tiere und die erste Natur: »Der Tag wird kommen, wo die Füchse nicht mehr fauchen/und wo die Ochsen ihre Hörner in den Schatten stell’n/auch die Flussgazell’n werden nie mehr bell’n,/sondern Mozart singen oder Debussy.« Nichts ist mehr so, wie es mal war, aber alles in diesem Lied strahlt die Gewissheit aus, dass keiner mehr Angst zu haben braucht. So elegant und zugleich unnachgiebig, wie er sprachlich und musikalisch die Zumutungen der Welt parierte, geht von seiner Kunst bei aller Schwärze, die sie sich verordnet, doch eine eigenartige Zuversicht aus. Georg Kreisler ist in der vergangenen Woche im Alter von 89 Jahren in Salzburg gestorben. Sein böser Blick und seine Leichtigkeit werden fehlen.