Online-Fiction

Ja, das hätte man sich in den Redaktionen dieser Welt, darunter auch in unserer, vielleicht denken können: Die Chance, dass tatsächlich eine lesbische Syrerin mit US-Staatsbürgerschaft monatelang offenherzig über ihr Leben und ihre Kritik am Regime bloggt und nicht etwa eine Person, die Meldungen aus dem Land mit Hilfe einer Kunstfigur verbreitet, war nicht so wahnsinnig hoch. Daran, dass es so lange dauerte, bis der Schwindel um das Blog »Gay girl from Damascus« aufflog, sind jedoch nicht nur wir Journalisten, sondern auch wir Leser schuld, denn anscheinend ist es kaum noch möglich, Unterdrückung und Mord zu begreifen, wenn nicht gleich ein Gesicht dazu präsentiert wird. Und so kam erst der US-Journalist Andy Carvin vom Sender NPR auf die Idee, der Geschichte der weltweit gefeierten Bloggerin Amina hinterherzurecherchieren. Als feststand, dass die IP-Adresse des Gay Girl zu einem in Schottland stehenden Rechner gehörte, dauerte es nicht mehr lang, bis der Autor gefunden war und sich wenig später outete: Tom MacMaster, der zurzeit an der Universität von Edinburgh studiert und dort in einer Palästinenser-Unterstützergruppe aktiv ist. Ihm wurde vermutlich geholfen, seine Freundin Britta Froelicher forscht an der Uni St. Andrews zum Thema »Ökonomische Reformen und die syrische Textilindustrie«. Beide gehören der weltweit agierenden »Electronic Intifada« an – die schließlich, wohl aus Sorge um ihre Reputation, mithalf, den Schwindel um Amina auffliegen zu lassen, indem man vorliegende private Daten der beiden mit denen der angeblichen Bloggerin, die übrigens in älteren Postings eine äußerst israelkritische Position einnahm, abglich.
MacMaster entschuldigte sich mittlerweile für den Betrug – Lesben und Schwulen im Mittleren Osten werden ihm wohl kaum verzeihen. Er habe die Bewegung um viele Jahre zurückgeworfen, hieß es in einer ersten Reaktion.