Chris Kühn im Gespräch über den Wahlsieg der Grünen in Baden-Württemberg

»Sehr integrierend«

Nach 57 Jahren wurde die CDU am Wochenende in Baden-Württemberg als Regierungspartei von den Grünen abgelöst. Chris Kühn ist Landesvorsitzender der Grünen. Die Jungle World sprach mit ihm über die Gründe des Erfolgs, bevorstehende politische Veränderungen und den zukünftigen Ministerpräsidenten.

Wer hat den größeren Anteil an Ihrem Wahlerfolg: der Betreiber des Atomkraftwerks Fukushima, Tepco, oder die Bundesregierung?
Diese Frage greift zu kurz. Sieht man sich die letzten Wahlergebnisse der Grünen in Baden-Württemberg an, bemerkt man, dass wir kontinuierlich einen Stimmenzuwachs verzeichnen konnten. Wir sind fest verankert. Wir regieren in Freiburg, Tübingen und Konstanz, dort haben wir Oberbürgermeister, die Hervorragendes leisten. Und wir verfügen über viele kommunale Mandate. Zudem hat die Landtagsfraktion über 30 Jahre hinweg sehr gute Arbeit geleistet. Als Landesverband haben wir eine solide Basis.
Daneben wurde Baden-Württemberg im vergangenen Jahr von einem Projekt tief gespalten: »Stuttgart 21«. Wir Grüne haben dazu eine klare Position. Die Bürgerbewegung, die in Opposition zu »Stuttgart 21« entstanden ist, hat uns offensichtlich auch zum Wahlsieg verholfen. Und außerdem hatten wir mit Winfried Kretschmann einen sehr guten Spitzenkandidaten. Er ist ein Gegenpol zum spalterischen Stefan Mappus und hat sehr integrierend gewirkt. Aber selbstverständlich hat die Katastrophe in Japan das Thema Atomenergie an die erste Stelle der Agenda gesetzt und sicher wurden so noch letzte Wählerinnen und Wähler mobilisiert. Unser Erfolg lässt sich aber nicht auf ein Thema zurückführen.
Atompolitik ist größtenteils eine Sache des Bundes, Ihr Einfluss ist also beschränkt. Wie wollen Sie die Erwartungen gerade derjenigen Baden-Württemberger erfüllen, die die Grünen wegen der Atompolitik gewählt haben?
Da hat die Wahl gezeigt: Die Bürger haben gegen die Atomkraft gestimmt. Das ist ein Votum, die erneuerbaren Energien konsequent auszubauen. Konkret wollen wir zwei Dinge in Angriff nehmen: Zum einen werden wir uns der Klage der rot-grünen Bundesländer gegen die schwarz-gelbe Laufzeitverlängerung anschließen. So wollen wir die Laufzeitverlängerung über das Bundesverfassungsgericht kippen. Zum anderen werden wir eine knallharte und konsequente sicherheitsorientierte Atomaufsicht im Land einführen. Die bisherige Umweltministerin Tanja Gönner hat die Sicherheit gegenüber den Gewinninteressen der EnBW hintenangestellt und notwendige Sicherheitsnachrüstungen in Atomkraftwerken nicht eingefordert. Wir werden deshalb die Atomaufsicht verschärfen und der Sicherheit den größten Stellenwert geben.
In der Zeit der rot-grünen Bundesregierung hat Ihre Partei der Sicherheit der Atomkraftwerke nicht die allerhöchste Bedeutung eingeräumt. »Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandard und die diesem zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern«, kann man im sogenannten Atomkonsens aus dem Jahr 2000 nachlesen. Durch das Abschalten von Atomkraftwerken haben sich die Grünen in der Zeit auch nicht hervorgetan.
Unter Rot-Grün wurde das AKW Obrigheim abgeschaltet, das war der erste Meiler, der vom Netz gegangen ist. Im von den Grünen und der SPD auf den Weg gebrachten Atomkompromiss mit der Energiewirtschaft wurde erstmals eine Laufzeitbeschränkung für Atomkraftwerke festgelegt. Bis 1998 liefen die Meiler unbefristet. Daher war der Ausstieg, der unter Rot-Grün beschlossen wurde, ein energiepolitischer Meilenstein und der Einstieg in die Energiewende. In der langen Regierungsperiode unter Helmut Kohl war die Atomenergie der zentrale Baustein in der Energieversorgung. Die rot-grüne Regierung musste dann ja erst einmal eine Alternative entwickeln.
Den gesamtgesellschaftlichen Konsens, die erneuerbaren Energien auszubauen und planvoll aus der Atomkraft auszusteigen, hat die schwarz-gelbe Regierung nach der Bundestagswahl 2009 gebrochen. Nach dem klaren Signal der Wahl in Baden-Württemberg muss die Bundesregierung jetzt den Ausstieg konsequent angehen. Das heißt: Die sieben ältesten Atomkraftwerke und Krümmel müssen für immer vom Netz genommen werden. Reststrommengen dürfen nicht auf neue Meiler übertragen werden. Und wir müssen zum rot-grünen Atomausstieg zurückkehren. Aber zurzeit gilt das, was die Bundesregierung im vergangenen Herbst beschlossen hat. Schwarz-Gelb ist weiterhin auf Atomkurs.
Die Grünen werden sich in Baden-Württemberg nicht nur um die Atompolitik kümmern müssen. Welche grundlegenden Veränderungen darf man nach den 57 Jahren erwarten, in denen die CDU regiert hat?
Großer Reformbedarf besteht in der Bildungspolitik. Baden-Württemberg hat ein hochgradig sozial selektives Bildungssystem. Außerdem wollen wir eine Schulreform von unten anstoßen. Überall dort, wo Kommunen, Lehrer und Eltern vor Ort dies wollen, soll künftig längeres gemeinsames Lernen möglich sein. Und auch an den Hochschulen muss einiges verändert werden. So wollen wir die ungerechten schwarz-gelben Stu­diengebühren abschaffen.
Die andere Frage ist die des Politikstils. Mappus hat wie ein Rambo in Baden-Württemberg gewütet. Es geht nun darum, die gesellschaftliche Spaltung im Land zu überwinden und die Menschen stärker in die Politik einzubinden Wir wollen als Landesregierung mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung Wirklichkeit werden lassen. Da können wir neue Wege beschreiten, indem wir direkt-demokratische Verfahren stärken.
Ein weiterer Punkt ist: Wie geht es mit dem Verkehr weiter? Wie schaffen wir es, das wenige Geld, das beispielsweise in den Schienenverkehr fließt, in sinnvolle Projekte zu investieren und nicht in einem Bahnhof zu vergraben? Aber klar ist: »Stuttgart 21« spaltet die Gesellschaft in Baden-Württemberg – wir wollen deshalb die Bürgerinnen und Bürger in einer Volksabstimmung über »Stuttgart 21« entscheiden lassen.
Da dürften Ihnen anstrengende Koalitionsverhandlungen bevorstehen. Schließlich befürwortet die SPD »Stuttgart 21«.
Koalitionspartner sind selbstverständlich nicht in jeder Frage einer Meinung. »Stuttgart 21« ist ein entscheidendes Thema, das auch ein Kern­thema in unserem Wahlkampf war. Für mich gehört zum modernen Regieren, dass man Konflikte aushält, aber dennoch Wege aufzeigt, wie sie zu lösen sind. Der Streit um »Stuttgart 21« hat Baden-Württemberg gesellschaftlich gespalten. Wir sind uns mit der SPD zumindest darin einig, dass wir einen Ausweg finden können, indem wir die Bürgerinnen und Bürger an der Entscheidung partizipieren lassen und nicht die Bedenken ignorieren, die auf der Straße und in der Schlichtung geäußert werden. Wir werden in der Frage die Menschen beteiligen.
Claudia Roth, die Bundesvorsitzende Ihrer Partei, hat von einer »Zeitenwende« in Baden-Württemberg gesprochen. Der grüne Spitzenkandidat und wahrscheinliche zukünftige Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat dagegen kürzlich in einem Interview gesagt: »Meiner Meinung nach sind die Grünen in Baden-Württemberg inzwischen die einzige im echten Sinne konservative Partei. Wir wollen die Schöpfung bewahren und gute alte Werte ebenso.« Kommt also statt der »Zeitenwende« nach 57 Jahren doch nur dasselbe in Grün?
Ich kann nur sagen: Winfried Kretschmann ist durch und durch ein Grüner. Er hat die Grünen mitgegründet, ist seit über 30 Jahren in unterschiedlichen Funktionen tätig und hat immer wieder seinen Widerstand gegen eine Landespolitik deutlich gemacht, die in zentralen Zukunftsfragen vollkommen vernagelt war. Er hat die Grünen in diesem Bundesland geprägt.
Außerdem gilt: Auch jemand, der katholisch und wertkonservativ ist, kann eine moderne, offene und zukunftsfähige Politik machen. Auch Grüne dürfen an Gott glauben und ein christliches Weltbild haben. Wir vereinen unterschiedliche Strömungen und kulturelle Auffassungen in unserer Partei. Diese Vielfalt macht sicher auch den Charme der Grünen aus.