Die deutsche Atomdebatte

Ich steig’ dann mal aus

Seit der Atomkatastrophe in Japan wird in Deutschland über Atomenergie debattiert. Kurz vor den Landtagswahlen, die am Sonntag in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz stattfinden, gibt sich die schwarz-gelbe Regierung, die noch vor wenigen Monaten eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke beschlossen hat, ausstiegswillig.

Schlaue Propheten machen keine Vorhersagen. Insbesondere wenn die Lage so unübersichtlich ist wie in der Atomdebatte, die der Gau von Fukushima in Deutschland ausgelöst hat. Es scheint, dass die Bundesregierung auf Zeit spielt. Das Moratorium, das Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verkündet hat, bezieht sich nur auf die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke, die Union und FDP im Herbst durchgesetzt hatten, ältere Reaktoren werden zum Zweck einer »Sicherheitsüberprüfung« vorübergehend abgeschaltet.
Die Katastrophe in Japan mag den einen oder anderen zum Nachdenken gebracht haben, vielleicht den Generalsekretär der CDU in Nordrhein-Westfalen, Oliver Wittke, der seiner Partei riet, »so schnell wie möglich« aus der Atomkraft auszusteigen. Von der gesamten Regierung und den sie tragenden Parteien ist das nicht anzunehmen, denn faktisch hat sich an den deutschen Atomanlagen nichts geändert, und der Hinweis des Deutschen Atomforums, wonach hierzulande kein durch einen Tsunami ausgelöster Reaktorunfall zu erwarten sei, ist zutreffend. Geändert hat sich in einem Jahr mit wichtigen Landtags- und Kommunalwahlen die Stimmung, vor allem in Baden-Württemberg, wo die jahrzehntelange Herrschaft der CDU am Sonntag enden könnte. Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) spricht von einer »emotionalen Ausnahmesituation«, und Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) wollte gleich »die Atomenergie aus der Kampfzone nehmen«.

»Ich bin für den Ausstieg aus dem Atomausstieg«, hatte Mappus vor einem Jahr gesagt. Er forderte den Rücktritt von Röttgen, der sich kritisch zur Laufzeitverlängerung geäußert hatte. Jetzt ist Mappus der erste, der das dauerhafte Ende des Atomkraftwerks Neckarwestheim verspricht, anscheinend in Rücksprache mit dem Eigentümer EnBW, dem angeblich die Nachrüstungsforderungen des baden-württembergischen Umweltministeriums zu teuer sind. Der Atomkonzern Eon gibt sich schon weniger entgegenkommend und will den abgeschalteten Reaktor Isar I in Bayern, dem die bayerische Staatsregierung jetzt Mängel attestiert hat, nicht stilllegen.
Nach den Erfahrungen mit »Stuttgart 21« können Politiker darauf setzen, dass Bürgerproteste zu diversen Themen eine geringe Halbwertszeit haben. Hat sich die Aufregung in ein paar Wochen gelegt, könnte Merkel wiederholen, was sie, Mappus, Guido Westerwelle (FDP) oder der bayerische Umweltminister Markus Söder (CSU) schon immer wussten, dass deutsche Atomkraftwerke die besten und sichersten der Welt seien. Eine Möglichkeit wäre auch ein Runder Tisch, um den Unmut kleinzureden, mit Heiner Geißler von Attac als bewährtem Moderator. Zumal auch die Opposition von Grünen und SPD keineswegs sofort alle Atomanlagen abschalten will. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel bemühte sich am Tag nach der Katastrophe in Japan sogar, eine Debatte mit dem Verweis auf Pietätlosigkeit gleich im Keim zu ersticken. Auf die SPD ist in Krisenzeiten eben Verlass. SPD und Grüne wollen zwar die alten Anlagen dauerhaft stilllegen, aber ansonsten bloß die Verlängerung der Laufzeiten zugunsten des »Atomkonsenses« von 2001 zurücknehmen. Das beinhalten die beiden Anträge, die die Bundestagsfraktion der Grünen am Dienstag voriger Woche eingebracht hat.
Damit könnten neun deutsche Atomkraftwerke, darunter Brokdorf, Grohnde und Neckarwestheim 2, bis mindestens 2020 weiterlaufen, eventuell könnten die Atomkonzerne auch noch die Restlaufzeiten der älteren Anlagen übernehmen, so dass es am Ende bis 2025 oder noch länger dauern würde, bis der letzte Atommeiler vom Netz geht.

Aus der Linkspartei gibt es widersprüchliche Stellungnahmen, die darauf hindeuten, dass die Partei nicht begriffen hat, worum es eigentlich geht: dass Atomkraft eine mörderische Destruktivkraft ist, die vom Uranabbau über den unfallfreien Normalbetrieb bis zum Müll radioaktive Substanzen freisetzt, die den Menschen Schäden zufügen. Zunächst klagte Wolfgang Neskovic, Richter a.D. und Justiziar der Fraktion, die Bundeskanzlerin begehe mit dem Moratorium einen Gesetzesbruch, weil der Paragraph 19 des Atomgesetzes auf konkrete Gefahrenabwehr ziele, dann tönte der Parteivorsitzende Klaus Ernst, die »Erpresser-Konzerne müssen erst verstaatlicht und dann zerschlagen werden«. Seine Kollegin Gesine Lötzsch forderte während einer Mahnwache vor dem Kanzleramt den »schnellen Ausstieg«. Die parlamentarische Geschäftsführerin Dagmar Enkelmann hingegen warnte, Merkels Kontrollen könnten ein Täuschungsmanöver sein, und verlangte eine »drastische Verschärfung des Sicherheitsniveaus«.
Ernst will in Bayern Atomkraft per Volksentscheid verbieten. Eigentlich hätte ihn Neskovic darauf hinweisen sollen, dass es sich um Bundesrecht handelt, aber der Tipp kam schon von den Grünen, die sich sorgen, dass einige Wähler abwandern könnten, die den Opportunismus der »Ökopartei« nicht vergessen haben. In der Zeit der rot-grünen Bundesregierung wurde die einzige neue Atomanlage nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl in Deutschland errichtet, der neue Forschungsreaktor in München-Garching. Und nachdem der »Atomkonsens« ausgehandelt worden war, der den Konzernen jahrzehntelange Profite garantierte, wechselte Gunda Röstel, von 1996 bis 2000 Vorsitzende der Grünen, als Managerin zu Gelsenwasser, einer Tochterfirma von Eon.

Die Anti-AKW-Bewegung feiert schon seit einiger Zeit eine Renaissance. Lässt sie sich nicht von der SPD, den Grünen oder der Linkspartei vereinnahmen, könnte sie einen schnellen Ausstieg bewirken. Sollte es dazu kommen, dürften allerlei Gruppen mit Parolen auftreten, die aus einer emanzipatorischen linken Perspektive kritisiert werden müssen. Den alten apokalyptischen Furor dokumentieren Demonstranten, die in Neckarwestheim mit Plakaten auftraten, auf denen »Tschernobyl – Fukushima – Neckarwestheim« stand. Angst ist ein wesentliches Motiv für den Protest gegen Atomkraft, sie trägt aber nicht weit, weil Menschen nicht dauernd in einem Zustand der Angst leben können. Die Angst wird bald verdrängt oder führt zu Gefühlen der Ohnmacht. Die Organisation »Ausgestrahlt« schaltete in Zeitungen eine Annonce mit dem Slogan »Aus Trauer wird Power. Aus Wut wird Mut«. Dass eine atomare Katastrophe als Anlass für Protest-Ertüchtigung dienen soll, bleibt makaber, auch wenn es eine sinnvolle Möglichkeit ist, mit Gefühlen umzugehen. Zumal es sich ja nicht um eine Naturkatastrophe handelt, wie die Grünen-Vorsitzende Renate Künast nahelegte, als sie im Deutschlandfunk sagte: »Wir beherrschen nicht die Natur, sondern die Natur herrscht über uns.«

Die Atomkatastrophe in Fukushima wird von Journalisten bereits zum Anlass genommen, im Stil der alten Rassen- und Völkerpsychologie über den unergründlich lächelnden Japaner an sich zu räsonieren, obwohl man im Fernsehen genügend Menschen sehen konnte, die in Tränen aufgelöst waren. Der Schriftsteller Achim Szepanski, der früher Besitzer des Labels Mille Plateaux war, schrieb auf seinem Facebook-Profil: »Ich weiß nicht, es kommt mir vor, als würden die Japaner auf die Wolke warten, wie die Juden auf die Gaskammer gewartet haben.« Dennoch, die Anti-AKW-Bewegung wird derzeit nicht von öko­faschistischen Gruppen geprägt wie in den siebziger Jahren, als der »Weltbund zum Schutz des Lebens« unter Leitung des vormaligen NS-Funktionärs und Anthroposophen Werner Georg Haverbeck einflussreich war.
Für den kommenden Samstag hat ein Bündnis aus Attac, der Initiative »Ausgestrahlt«, dem Bund für Umwelt und Naturschutz, Robin Wood, den Naturfreunden, dem Netzwerk Friedenskooperative und diversen Anti-Akw-Initiativen zu Demonstrationen in Berlin, Hamburg, Köln und München aufgerufen. In dem sehr kurz gefassten Aufruf heißt es, »alle Atomkraftwerke müssen sofort stillgelegt werden, und zwar endgültig«. Diese Forderung ist schlicht, weist in die rich­tige Richtung und überdauert vielleicht auch das Moratorium, zumal das Verhältnis von Staat und Atom-Kapital nicht mehr so exklusiv ist. Längst gibt es Kapitalfraktionen, die von regenerativen Energien leben. Ein Teil der Basis von CDU/CSU, Ingenieure, Handwerker und Händler, lebt von der Projektierung, dem Vertrieb und der Installation von Solaranlagen, von Energieberatung und Wärmedämmung. Als die Regierung im vergangenen Jahr das Energie-Einspeise-Gesetz (EEG) änderte und die Subvention des Solarstroms drastisch beschnitt, dauerte die Debatte monatelang, weil die eigene Klientel intervenierte.