Wirtschaftskrise in Japan

Verschuldet und depressiv

Japan bemüht sich, seine wirtschaftliche Krise zu bewältigen. Doch die bereits lang anhaltende Stagnation bedroht mittlerweile die Kreditwürdigkeit des Landes.

Will denn niemand mehr Autoteile und Unterhaltungselektronik kaufen? Zumindest japanische Exportgüter dieser Art sind derzeit nicht sonderlich gefragt. Die japanische Regierung versucht, Abhilfe zu schaffen. In den vergangenen Monaten griff sie mehrfach auf den Devisenmärkten ein und wertete den Yen ab, um die Exportwirtschaft zu unterstützen.
Auch Konjunkturprogramme sollen die Wirtschaft wieder in Schwung bringen. Eine halbe Million Arbeitsplätze will die Regierung mit dem neuesten »Konjunkturpaket« schaffen, das ein Volumen von gut fünf Billionen Yen umfasst, derzeit etwa 44 Milliarden Euro. Es ist Teil eines Nachtragshaushalts, der dem Parlament noch in diesem Monat vorgelegt werden soll. Erst kürzlich beschloss Japan ähnliche Maßnahmen, deren Wirkung aber weitgehend verpuffte. Das japanische Bruttoinlandsprodukt (BIP) war im zweiten Quartal im Vergleich zum ersten nur um 0,4 Prozent gewachsen. Gründe waren der schwache Konsum und der durch den starken Yen verteuerte Export.

Noch im ersten Quartal lag das Wachstum des BIP bei 4,4 Prozent, was als Anzeichen dafür interpretiert worden war, dass das Land inmitten der Weltwirtschaftskrise in der Lage sein könnte, seine nun über 15 Jahre anhaltende ökonomische Stagnation zu überwinden. Offensichtlich war das Wachstum nur von kurzer Dauer und lediglich eine kleine Ausnahme in einem insgesamt ungebrochenen Abschwung. Seit vier Jahren erzielt das Land größere Deviseneinnahmen mit Dividenden und Zinsen aus Auslandsanlagen als mit Exporten. Die Krise hat diese Tendenz noch drastisch verstärkt. Die Exporte sanken etwa im Dezember 2009 im Vergleich zum Vorjahr um 35 Prozent, zugleich nahmen die Importe um 22 Prozent ab, was den bisherigen Tiefpunkt der wirtschaftlichen Misere markierte. Inzwischen wurde Japan von China als zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt abgelöst.
Im Kampf gegen den starken Yen hat die japanische Notenbank in der vergangenen Woche den Leitzins praktisch auf Null gesenkt. Sie kehrt damit zu ihrer faktischen Nullzinspolitik der Jahre 2000 bis 2006 zurück. Hauptgründe für die zusätzliche Lockerung der ohnehin sehr expansiven Geldpolitik sind die anhaltend starke Währung, seit langem sinkende Verbraucherpreise und die weiterhin schwache Binnenwirtschaft. Der Yen verlor allerdings nur zeitweise an Wert gegenüber dem US-Dollar. Bereits wenige Stunden nach der Zinssenkung kostete die japanische Währung schon wieder mehr als vor dem überraschenden Schritt. Die Regierung hatte im September erstmals seit Jahren mit großen Dollarkäufen am Devisenmarkt interveniert, um die Kurssteigerung des Yen zu stoppen. Dieser hat seit Mai um etwa dreizehn Prozent an Wert gegenüber dem Dollar gewonnen, was die ohnehin schrumpfenden Exporte weiter reduzieren könnte.
Offenbar setzt sich eine mächtige Tendenz durch, gegen die unterschiedliche japanische Regierungen seit den frühen neunziger Jahren vergeblich angekämpft haben. Als einziges hochindustrialisiertes Land hat Japan eine lange und von wirtschaftlicher Schrumpfung und anschließender Stagnation begleitete Deflation durchlaufen. Über einen Zeitraum von anderthalb Jahrzehnten verloren Aktien und Immobilien stark an Wert, fielen die Preise und sanken die Einkommen. Aus dem raschen Wachstum der achtziger Jahre wurde schließlich ein Stillstand. Die Deflation war die Folge einer Krise am Aktien- und Immobilienmarkt: Der Nikkei-Index, der sich von 1984 bis Ende 1989 fast vervierfacht hatte, brach bis Mitte 1992 um 60 Prozent ein, bis 2003 erreichte der Verlust 80 Prozent. Die Bodenpreise in Tokio, die sich zwischen 1986 und 1990 verdoppelt hatten, fielen danach innerhalb von zehn Jahren um 60 Prozent.

Auch die Lebenshaltungskosten sanken, was die Lohnsenkungen und die ökonomische Unsicherheit für die Bevölkerung immerhin erträglich machte. Zwischen 1998 und 2005 wurde Hühnerfleisch um sieben Prozent billiger, Gemüse um 20 und Toilettenpapier um 45 Prozent. Ein FR-Korrespondent berichtet: »Die japanische Eisenbahn warb mit dem Schlagwort der ›guten Deflation‹ für Skireisen, die immer preiswerter wurden. Vom Glas Bier über die Taxifahrt bis zum Strom – viele Preise in Japan waren seit Mitte der neunziger Jahre wie eingefroren.«
Von 1998 bis 2005 sanken die Löhne zwar um 5,3 Prozent, ein Drei-Personen-Haushalt hatte nach diesen sieben Jahren Einkommensverluste von elf Prozent. Aber wegen der fallenden Preise blieb die Kaufkraft der Bevölkerung ungefähr auf demselben Stand. Aus Furcht vor Bankenpleiten vermieden die Japaner Aktienkäufe und andere riskant erscheinende Geldanlagen. Nahezu 50 Prozent der 1 500 Billionen Yen an japanischem Privatvermögen (etwa 12,5 Billionen Euro) liegen auf Sparbüchern. Die zuhause bar gehorteten Sparvermögen belaufen sich nach einer Schätzung von Richard Jerram, dem Chefökonomen von Macquarie Capital Securities in Tokio, auf einen Betrag in der Höhe von vier bis fünf Prozent des Inlandsprodukts – also ungefähr 233 Milliarden Euro.
Die dramatische Kapitalvernichtung der neunziger Jahre führte zu einer Stagnation. Erst wuchs die Wirtschaft langsamer, schließlich schrumpfte sie. Der ökonomische Niedergang konnte nur mit umfangreichen Konjunkturprogrammen aufgehalten werden, mit denen die japanische Regierung etwa öffentliche Baumaßnahmen förderte und damit ein Absinken in die Rezession verhinderte. Der Preis für diese Stabilisierungspolitik ist die weltweit höchste Staatsverschuldung. Ende März hatte die Regierung umgerechnet 7,7 Billionen Euro an Schulden aufgehäuft. Bis März 2011 wird die japanische Staatsschuld vermutlich um weitere zehn Prozent wachsen, denn die Regierung kommt ohne eine beträchtliche Neuverschuldung nicht aus. Fast der halbe Haushalt wird so finanziert, die Zinsen verschlingen derzeit schon mehr als die Hälfte der Steuereinnahmen.
Bislang hat sich die Regierung ihre Kredite fast vollständig im Inland beschafft. Die japanischen Geschäftsbanken verfügen über einheimische Staatsanleihen im Wert von umgerechnet mehr als einer Billion Euro. Gut die Hälfte der Schuldtitel wird von staatlichen Institutionen wie der Post, der Rentenkasse und der Bank von Japan gehalten. Auf diese Weise hat der Staat es bisher geschafft, sich wenigstens zum Teil bei sich selbst zu verschulden – eine Strategie, die so lange funktioniert, wie das System stabil bleibt. Nur fünf Prozent der japanischen Staatsanleihen befinden sich in ausländischer Hand. Auch deshalb hat bisher kaum ein Hedgefonds auf fallende Kurse japanischer Anleihen spekuliert – es fehlt schlicht das Profitinteresse. Zwei, drei Jahre könne Japan sich noch weiter verschulden, gibt die Wirtschaftsredaktion der FAZ die Prognosen maßgeblicher Ökonomen wieder. »Optimisten sprechen sogar von fünf bis zehn Jahren. Dann müsse sich auch Japan das Geld bei ausländischen Kapitalgebern leihen und seine Abschottung vom globalen Finanzmarkt aufgeben, die es dem Land bis jetzt ermöglicht hat, viele Jahre lang seine Niedrigzinspolitik ohne Probleme durchzuhalten.«
Die hohe Staatsverschuldung und die wirtschaftliche Stagnation werden allmählich auch zu einer Bedrohung für Japans Kreditwürdigkeit auf den Finanzmärkten. Die Rating-Agentur Standard & Poor’s stellte im September offiziell fest, dass die Kreditwürdigkeit Japans sinke. Zwar bleibt das bisherige AA-Rating erhalten, aber es trägt nun den Makel eines negativen Ausblicks, was wiederum auf eine mögliche Abwertung hindeutet. Oder, um es mit den Worten des für die Ratings öffentlicher Finanzen zuständigen Direktors von S&P, Takahira Ogawa, zu sagen: »Das Rating von AA ist immer noch gültig, aber die Kreditwürdigkeit der japanischen Regierung sinkt langsam.«
Mit gut 70 Prozent ist die Kapazitätsauslastung der Industrie noch immer gering. Die Erwerbs­losenrate stieg auf für japanische Verhältnisse ungewöhnliche 5,3 Prozent. Vor Krisenbeginn 2007 waren es 3,9 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit 11,1 Prozent gar die höchste, die je statistisch erfasst wurde. Trotzdem sehen nach einer Umfrage des Finanzministeriums viele Unternehmen noch einen »Personalüberhang«, Konzerne lagern ihre Produktion in Billiglohnländer aus.

Bei den Arbeitern und Angestellten schwindet das bisher durch den repressiven Betriebskorporatismus vermittelte Sicherheitsgefühl allmählich. Betriebszugehörigkeiten bestehen längst nicht mehr lebenslang, was auch ein verinnerlichtes Firmen- und Arbeitsethos obsolet macht. Diese Tendenz wirkt sich auch als psychosoziale Krise bei den Beschäftigten aus. Eine verbreitete Methode des Lohn- und Sozialabbaus ist bisher der Generationswechsel in den Betrieben, wodurch größere Entlassungswellen weitgehend vermieden werden konnten. Die neu geschaffenen Arbeitsverhältnisse aber sehen anders aus als die bisher gekannten »Betriebsgemeinschaften«. Mehr als ein Drittel der jüngeren Beschäftigten arbeitet nach einer Untersuchung des zuständigen Ministeriums inzwischen in prekären Verhältnissen.
Stress am Arbeitsplatz, Leistungsdruck in allen gesellschaftlichen Bereichen, sinkende Löhne, zunehmende Arbeitsplatzunsicherheit und Angst vor einer Rezession haben in den vergangenen Jahren zu einer immer weiter ansteigenden Selbstmordrate geführt – einer der höchsten der Welt. Was die von Entlassung bedrohten und in ihrer sozialen Existenz wie ihrer Betriebsidentität erschütterten Arbeiterinnen und Arbeiter überwiegend als persönliches Versagen werten und entsprechend beantworten, betrachten inzwischen allerdings auch die kühlen Rechner im japanischen Wirtschaftsministerium als ernstes Problem. Durch Selbstmorde und Depressionen sind der japanischen Wirtschaft im vergangenen Jahr beträchtliche Schäden entstanden. Nach Regierungsschätzungen belaufen sich die daraus resultierenden Gesamtkosten auf fast 2,7 Billionen Yen (fast 25 Milliarden Euro). Diese Summe ergebe sich aus den Kosten für die sozialen und medizinischen Leistungen für Depressionskranke, Einkommensausfällen von Patienten und Selbstmördern sowie anderen Faktoren, teilte die Regierung in ihrer ersten Berechnung dieser Art mit. Demnach nahmen sich in Japan 2009 insgesamt 26 500 Menschen zwischen 15 und 69 Jahren das Leben. Hätten diese ein Jahr länger gelebt und gearbeitet, hätten sie 1,9 Billionen Yen erwirtschaftet, rechnet die Regierung vor.
Zugleich aber zeichnen sich auch erste Tendenzen zu verschärften sozialen Kämpfen und Klassenauseinandersetzungen ab. So hat die Freeters Union, eine radikale Basisgewerkschaft für Prekäre, seit Jahren verstärkten Zulauf. Ge­rade unter den Arbeiterinnen und Arbeitern, die ihrer bisherigen sozialen Sicherheiten beraubt wurden, ist eine höhere Bereitschaft zu Streiks erkennbar.