Im Reich der Mundtoten. Die Neuberechnung der Hartz-IV-Bezüge

Im Reich der Mundtoten

Die wissenschaftlich verbrämte Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze bringt vor allem eines mit sich: In Zukunft sollen die Empfänger der staatlichen Leistungen von den bürgerlichen Verkehrsformen ausgeschlossen werden.

Über die Neuberechnung der Hartz-IV-Bezüge scheint sich kaum jemand aufzuregen. Die Proteste sind zaghaft, in Berlin demonstrierten am Wochenende gerade einmal 2 000 Menschen »gegen Hartz IV und Hungerlöhne«. Die Linkspartei ist aus dem politischen Diskurs verschwunden, die SPD hat mit der Bewältigung der Sarrazin-Affäre genug zu tun, die Grünen weiden sich an dem sie beflügelnden Konflikt um »Stuttgart 21«, die Gewerkschaften feiern ihre Erfolge in den jüngsten Tarifverhandlungen. Sicher, keiner dieser politischen Akteure hat grundsätzlich etwas gegen Hartz IV einzuwenden, mit Ausnahme eines Teils der »Linken«. Aber man sollte doch annehmen, Hartz IV sei immer noch ein großes politisches Thema, um sich als soziale Opposition gegen die Regierung zu profilieren.
Die Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze wurde notwendig, weil das Verfassungsgericht die alte Berechnung für verfassungswidrig befunden hat. Ihr Leitprinzip ist ein Skandal. Es lautet: Die Bezüge müssen sich zwar ändern – Befehl von oben, sozusagen. Zugleich dürfen sie sich aber nicht erhöhen, weil kein Anreiz geschaffen werden soll, dass Leute aus ihren katastrophal entlohnten Jobs desertieren, um besser gleich Arbeitslosengeld zu beziehen.

Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat diesen Sachverhalt freilich positiv ausgedrückt: Die Hartz-IV-Sätze seien so niedrig, weil Erwerbslosigkeit doch kein Dauerzustand sei, sondern die Leute möglichst schnell wieder Arbeit finden sollten. Anders gesagt: Hartz IV ist so knapp bemessen, damit die Bezieher noch die übelsten Niedriglohnjobs dankbar annehmen. So läuft die Neuregelung von Hartz IV geradewegs darauf hinaus, den Almosencharakter dieses Arbeitslosengeldes – und damit die totale Abhängigkeit der Almosenbezieher vom Geber, dem Staat – nur noch stärker hervorzuheben.
Das fängt schon mit den fünf Euro an, die es demnächst monatlich mehr geben soll. Das ist nicht nur eine lächerlich niedrige Summe. Dieser Betrag wird auf vermeintlich wissenschaftliche Art begründet: Es gibt einen genau festgelegten »Warenkorb«, der für jeden Hartz-IV-Empfänger derselbe ist. Darin befinden sich die notwendigen Lebensmittel, die angeblich in der Bundesrepublik im Jahr 2010 nötig sind, um Monat für Monat das Überleben zu sichern. Aus diesem Warenkorb werden einige Artikel gestrichen wie etwa Flugreisen oder Alkohol, von anderen darf es etwas mehr sein – heraus kommt dann eben ein Plus von fünf Euro. Andere Leistungen werden gar nicht erst in Geld umgerechnet – die Eltern sollen für ihre Kinder Bildungs- und Essensgutscheine einlösen.
So werden Hartz-IV-Empfänger teilweise aus den Geldkreisläufen ausgeschlossen. Das bürgerliche Subjekt konstituiert sich jedoch gerade durch den Zugang zu diesen Geldkreisläufen. Den Empfängern von Sachleistungen werden also bürgerliche Verkehrsformen in erheblichem Maß verweigert. Was wäre der nächste Schritt der Entmündigung? Man könnte das Wahlrecht von Hartz-IV-Empfängern einschränken. Das klingt absurd? Hätte jemand vor fünf Jahren prophezeit, dass das biologistische Räsonnieren eines ehemaligen sozialdemokratischen Finanzsenators begeistert rezipiert würde, hätte man diese Vorhersage wohl auch für absurd gehalten.

Um es einmal moralisch empört auszusprechen: In der Neuregelung der Hartz-Sätze kommt eine eiskalte, zynische Logik zum Zuge. Aber das reicht in der Öffentlichkeit nicht einmal für einen Anflug moralischer Empörung, sondern allenfalls für einige Meldungen, die schnell überlesen werden. So kürzt die Bundesagentur für Arbeit Hartz-IV-Empfängern mit Kindern schon jetzt das Elterngeld. Das sieht das Sparprogramm der Bundesregierung zwar vor. Aber was die Regierung bereits verabschiedet hat, entbehrt noch der gesetzlichen Grundlage: Bundestag und Bundesrat haben der Streichung des Elterngeldes noch nicht zugestimmt, im Bundesrat hat die Regierung derzeit keine Mehrheit. Trotzdem schreitet die Arbeitsagentur schon zur Tat. Sicher – dagegen wird geklagt, und die Bundesagentur dürfte diese Prozesse auch verlieren. Aber das ist nebensächlich: Es kommt darauf an, die Hartz-IV-Empfänger zu schikanieren und zu sehen, mit wie viel Widerstand zu rechnen ist. Diese in vorauseilendem Gehorsam vollzogenen Sparmaßnahmen haben keinen ökonomischen Zweck, sondern ausschließlich einen politischen. Es geht um Bevölkerungskontrolle sans phrase.
Öffentliche Aufregung? Fehlanzeige. Dabei herrscht in Deutschland in diesen Wochen eigentlich keine Lethargie. Glaubt man den politischen Kommentatoren, vielen Politikern und nicht zuletzt den politisierten Bürgern, also denen mit Universitätsabschlüssen und den besseren Jobs, dann steht Deutschland am Rande des Abgrunds. Oder präziser: kurz vor der Spaltung.
Stuttgart ist in diesen Wochen die Hauptstadt des deutschen Bürgertums, eine reiche, kunstsinnige, eigentlich befriedete Provinzmetropole. Aber es kracht dort, ein Riss entzweit Familien und beendet Freundschaften. Die CDU könnte die Auseinandersetzung die nächste, für den Fortbestand der schwarz-gelben Koalition entscheidende Landtagswahl kosten. In Stuttgart geht es nicht mehr nur um den Neubau des Hauptbahnhofs. Längst bestehen zwei bürgerliche Gruppen: die liberale, bürgernahe, auf Demokratie setzende – und die konservative, die die bürgerlichen Freiheiten in erster Linie vor sich selbst schützen will, damit Deutschland in der Standortkonkurrenz nicht untergeht und nicht zu verständnisvoll mit Muslimen umgeht. Abgesehen von den Grünen geht diese Spaltung durch alle großen Parteien: Thilo Sarrazin ist bekanntlich bekennender So­zialdemokrat. Angela Merkel, von Haus aus konservativ, steht in fast allen gesellschaftspolitischen Fragen links von Sarrazin.

In diesen Streitigkeiten taucht das Prekariat gar nicht mehr auf – höchstens noch als Objekt der Beschimpfung, etwa wenn Sarrazin sich mal wieder zu Wort meldet. Aber auch die Reaktionen auf solche Ausfälle gegen die arme Bevölkerung sind bezeichnend: Sarrazins linksliberale Gegner kritisieren in erster Linie seine rassistischen Spitzen, dabei verknüpft er die sogenannte Rassen- mit der Klassenfrage, autochthone Hartz-IV-Empfänger sind für ihn genauso »unproduktiv« wie muslimische Großfamilien. Für Sarrazin und seine Anhänger steht die Frage nach der »Produktivität« oder der »Unproduktivität« von angeblich durch und durch homogenen gesellschaftlichen Schichten im Mittelpunkt der politischen Ordnungsvorstellungen – der Rassismus ist tatsächlich sekundär.
Die Hartz-Neuregelung und die mehr oder weniger stillschweigende Hinnahme dieser Maßnahmen machen deutlich: Der schnelle soziale Abstieg bleibt als Drohung allen Lohnabhängigen präsent, aber dieser soziale Abstieg hat auch noch eine politische Dimension. Wer arbeitslos wird, steigt hinab ins Reich der Mundtoten und wird sich als Unmündiger darüber freuen müssen, wenn eine gutmütterliche Arbeitsministerin mal wieder eine warme Mahlzeit springen lässt.