Kuno Kruse: »Der Mann, der sein Gedächtnis verlor«

Vergessene Welt

Jonathan Overfeld hat seine Jugend in verschiedenen Kinderheimen verbracht, Kuno Kruse hat seine Geschichte aufgeschrieben. »Der Mann, der sein Gedächtnis verlor« ist ein Bericht aus der Pathologie Westdeutschlands.

Man muss auch mal vergessen können«, mit diesem Satz wird in Kuno Kruses Buch »Der Mann, der sein Gedächtnis verlor« ein Pfarrer zitiert. Eine Aufforderung, die Jonathan Overfeld, 54 Jahre alt, äußerst ernstgenommen hat. Er leidet an sogenannter retrograder Amnesie, einem psychisch bedingten Gedächtnisverlust, dessen Ursprung für gewöhnlich in einer Überlastungsreaktion des Denkapparats liegt. Jedenfalls erwacht der arme Mann auf einer Parkbank in Hamburg und weiß weder, wer, noch wo er ist. Nichts außer ein paar Kleinigkeiten, die er bei sich trägt, gibt Hinweise auf seine Existenz.
Mit solchen Malaisen landet man umgehend in der psychiatrischen Anstalt. Etwas später dann immerhin in so etwas wie einer eigenen Wohnung. Und wer nicht aufpasst, beim Taz-Mitbegründer und Stern-Reporter Kruse.
Kruses Buch ist die Lektüre zum Skandal: Overfeld war während seiner Kindheit und Jugend in diversen Einrichtungen mit und ohne kirchlichem Hintergrund interniert. Landläufig firmieren sie als Kinderheime, und der Verweis auf sie diente mindestens von den Fünfzigern bis in die Achtziger als Drohszenario für Sprösslinge des aufkommenden Kleinbürgertums: »Wenn du deinen Teller nicht leer ist, kommst du ins Heim.«
Für die, die drinnen saßen, war’s nicht nur eine Drohung. Anwendung von Gewalt und ­sexueller Missbrauch sollen an der Tagesordnung gewesen sein, rund eine Million derzeit ­lebende Menschen waren diesen Verhältnissen ausgesetzt. Kinder aus problematischen Verhältnissen landeten in geschlossenen Heimen, auf dass sie das Wirtschaftswunder nicht beeinträchtigten. Bildung gab es vielleicht bis zur achten Klasse, danach Arbeit zu Mini-Löhnen ohne Aufstiegs- und Ausstiegschancen in Fabriken.
Prügel sind das gängige Erziehungsmittel, das Erziehungsziel: Brechen der ohnehin fragilen Persönlichkeit. Auch mit Overfeld hat man dies versucht. Und seinem Vorarbeiter geht erstaunlich leicht das Wort von der Gaskammer, in die man die Zöglinge zu stecken vergessen habe, von der Zunge. Was es bei Kruse zu lesen gibt, klingt wie Hans Fallada plus Nationalso­zialismus.
Seit einigen Jahren nun wird versucht, dieses düstere Kapitel aufzuarbeiten, und Overfeld ist hier ein ganz prominenter Fall: Er bewahrt wenig Stillschweigen, seit er das Gedächtnis wieder erlangt hat, randvoll mit weisen Pfarrersratschlägen. Er engagiert sich stark für die Sache der ehemaligen Heimkinder, geht in Talk-Shows, steht Rede und Antwort. Zudem geht es um eine immense Geldsumme; Michael Witti, der Rechtsanwalt, der die Klagen ehemaliger NS-Zwangsarbeiter vertreten hat, ist auch in dieser Angelegenheit aktiv, die Rede ist von 25 Milliarden Euro, die den ehemaligen Heimkindern zustünden. Für den einzelnen Betroffenen ist dies nicht mal viel.
Kruses Buch enthält all diese Fakten, quasi in den Nebensätzen. Denn im Zentrum steht der Protagonist und das Anspringen seines Gedächtnisses. Dass Overfeld zuweilen ein schwieriger Charakter sein kann, wird nicht verschwiegen, sondern betont, in dieser Mischung aus Sachbuch, literarischem Versuch und reißerischer Kolportage.
Wie kriegt das Buch die Amnesie, die Krankheit in den Griff? Das Trauma soll fürs Lesepublikum nachvollziehbar gemacht werden: »Jetzt schlagen die Pranken zu. Der Kinderkopf schleudert hin und her und schlägt gegen das Scheunentor. Geprügelt wird zu seinem Besten«, heißt es einmal, und dass man von dieser Behandlung durchaus ein Gehirn erhalte, das wie »strahlender Traubenzucker« sei.
Mit an die Moderne angeflanschtem Vokabular ist von den Vorgängen die Rede. Natürlich hat das Gedächtnis einen »Systemabsturz«, es spaltet die belasteten Areale ab, ganz so, als sei der Mensch ein iBook.
Die allwissende Erzählung bewegt sich zwischen der Beschreibung physiologischer Vorgänge, die psychologisches Leid bewältigen, und den alltäglichen Dingen, die Overfeld zu erledigen hat, die er schaffen muss mit seinem armen kaputten Kopf.
Der unverbrüchliche Wille ist spürbar, mit dem der Mann sein Leben zurückgewinnen will; was er dabei erfährt, gefällt ihm nicht immer. Ja, er kann Mahlers Sinfonien aufs Klavier bringen, aber mühselig ausfindig gemachte Bekannte aus seinem ehemaligen Umfeld wollen ihn auch im Rotlicht- und Spielermilieu verorten, wenn sie nicht gleich, was er nur schwerlich nachvollziehen kann, den Kontakt ablehnen.
»Amnesie fühlt sich nicht an«, heißt es einmal, sie sei einfach da. Overfelds Gefühlsleben ist gestört, nicht vorhanden oder sendet nur widersprüchliche Signale. Der so Belastete hält sich an Kleinigkeiten fest, am liebsten an einer Flasche Schnaps. Kein Abend, an dem Overfeld keinen sitzen hat. »Er ist ein tiefverletzter Mensch, der weiter mit dem Kopf gegen die Wand rennen wird, nicht bis er umfällt, sondern die Wand«, schreibt Kruse.
Nicht immer kann die Journalistensprache den Fall einfach auf den Punkt bringen, denn: »Das autobiografische Gedächtnis ist allein dem Menschen vorbehalten.«
Und in dem geht es traurig zu. Sexualität sei eine Unterform von Gewalt, resümieren Autor und Hauptfigur einmal. In diesem Leben gibt es wenig stabile Größen, die es lebenswert machen würden. Kruse lässt sich bisweilen etwas stark mitreißen, auch wenn die beschriebenen Vorgänge der Wahrheit entsprechen mögen: »Blas ihm einen, dann hast du deine Ruhe«, beschreiben die ehemaligen Heimkinder ihr Verhältnis zu den katholischen Ordensbrüdern, die die Anstalt leiteten.
Die Wiedergabe der Ereignisse in einem Keller, in den zwei Nonnen zwei nackte Kinder sperren, damit die sich gegenseitig befummeln und die katholischen Schwestern dazu masturbieren können – auch das gehört sicherlich in diese Kategorie. Suchte man nach literarischen Vorbildern für den Mann ohne Gedächtnis, die »120 Tage von Sodom« ließen grüßen.
Die Kellerkinder der alten Bundesrepublik, schreibt Kruse, könnten oft kaum in geschlossenen Räumen sein, manchmal sei schon ein Auto zu eng. Daher fände man unter Obdachlosen viele von ihnen.
Kein Wunder.

Kuno Kruse: »Der Mann, der sein Gedächtnis verlor«. Hoffmann & Campe, Hamburg 2010, 256 Seiten, 20 Euro