Auf der Suche nach der Sonnenseite der Krise

Ebbe in der Portokasse

In Portugal versucht die Regierung angesichts der gewaltigen Folgen der Wirtschaftskrise, ein drastisch verschärftes Sparprogramm gegen die Beschäftigten durchzusetzen. Der Protest ist noch entwicklungsfähig.

Es war ganz offensichtlich ein schöner Tag für Jerónimo de Sousa. Einige hundert Frauen hat er geküsst, ähnlich vielen Männern die Hand geschüttelt und auf die Schulter geklopft. Er hat gewinkt, gelacht, applaudiert, man hat ihm zuge­jubelt, respektvoll zugelächelt. Zusammen mit ein paar Genossen hatte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Portugals (PCP) vor dem Opel-Autohaus in der Innenstadt Lissabons am Straßenrand gestanden und eine Parade abgenommen.
Die Parade war eigentlich eine Demonstration zum europaweiten Aktionstag des Europäischen Gewerkschaftsbundes gegen Sozialabbau am 29. September. In Brüssel demonstrierten gleichzeitig über 50 000 Menschen, Proteste gab es auch in anderen Städten Europas. Im benachbarten Spanien fand am selben Tag sogar ein Generalstreik statt, Hunderttausende gingen auf die Straße, in Barcelona kam es zu Straßenschlachten.

In Lissabon hingegen drohte die Lage auf der Demonstration zu keinem Zeitpunkt zu eskalieren. Die Polizei beschränkte sich darauf, eine Handvoll junger, hemdsärmliger Beamter das Parlamentsgebäude abriegeln zu lassen. Zwar wurden viele kämpferische Parolen gerufen und auf Transparenten mitgeführt, doch ansonsten ähnelte der »Aktionstag« eher einem Sonntagsspaziergang mit 1. Mai-Flair. Das Durchschnittsalter der etwa 20.000 Demonstranten lag deutlich über 40 Jahren, überwiegend Mitglieder von Jerónimo de Sousas Partei, dem PCP, oder einer der unzähligen Gewerkschaften. Jede noch so kleine Branche oder Berufsgruppe hat in Portugal eine eigene Gewerkschaft, und alle waren mit einem eigenen Transparent zugegen. Die Fischer, die Bahn- und Hotel-Angestellten, die Lehrer, die VW-Arbeiter, die »Intellektuellen«. Die Meteorologen trugen ein Transparent »Gegen das schlechte Wetter im öffentlichen Dienst!«, die Briefträger skandierten: »Die vereinigten Postboten werden nie besiegt werden!«
Das klingt radikal, doch die Parade der CGTP, des der KP nahestehenden Gewerkschaftsdachverbandes Portugals, war nicht gerade der Aufstand einer wütenden Menge, den man angesichts der geplanten Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen in Portugal durchaus hätte erwarten können. Das erste Sparpaket, das in Portugal PEC, »Programm für Stabilisierung und Wachstum«, genannt wird, ist bereits im Frühjahr beschlossen worden. Damals waren bei einem Aktionstag am 29. Mai immerhin 300 000 Menschen auf die Straße gegangen. Dass es diesmal vergleichsweise wenige waren, könnte auch daran gelegen haben, dass zu diesem Zeitpunkt noch kaum jemand ahnte, dass noch am selben Abend die Regierung drastische Verschärfungen der geplanten Sparmaßnahmen ankündigen würde.
Dabei ist die soziale Lage der meisten Portugiesen schon jetzt ausgesprochen schlecht. Portugal ist, neben Griechenland, eines der Länder mit den prekärsten Wirtschaftsverhältnissen. Wenn in wirtschaftlicher Hinsicht in den vergangenen Monaten von Portugal die Rede war, dann vor allem als potentiellem Nachfolger Griechenlands als »Sorgenkind Europas«. Unter den so­genannten PIIGS-Staaten – den nach ihren Anfangsbuchstaben benannten EU-Staaten, die unter hohen Schulden, galoppierendem Staatsdefizit und negativer Außenhandelsbilanz leiden – ist Portugal nicht nur wegen des Wortspiels bei der Benennung in erster Reihe zu finden. Zwar wurden in diesem Jahr bereits auch die anderen Länder dieser »Schweine«-Staatengruppe – Italien, Spanien und vor allem Irland – als Griechenland-Nachfolger gehandelt, doch sind in keinem dieser Fälle die Reaktionen der Finanzwelt ähnlich ausgefallen wie gegenüber der Regierung in Lissabon.

Ende April hatte die weltweit führende Rating-Agentur Standard&Poor’s die Kreditwürdigkeit Portugals gemeinsam mit der Griechenlands um zwei Punkte herabgestuft, von A+ auf A-, während die Regierung in Athen den geringsten jemals in Europa vergebenen Wert von BB+ hinnehmen musste. Zwar konnten damit die Staatsanleihen, die als Sicherheiten für die Kredite ausgegeben werden müssen, anders als die griechischen noch nicht als »Ramsch« bezeichnet werden, aber das Zinsniveau für die Aufnahme dringend benötigter Kredite stieg dadurch um immerhin 1,08 Prozent. Damit erreichte Portugal das Niveau, das innerhalb der EU im Falle Griechenlands die ersten Überlegungen zum Eingreifen hervorgerufen hatte. Da bereits im März Fitch die Bonität Portugals herabgestuft hatte und schließlich im Juli auch die dritte der drei großen Ratingagenturen, Moody’s, der Einschätzung von Standard & Poor’s folgte und die Kreditwürdigkeit ebenfalls um zwei Bewertungspunkte nach unten korrigierte, dürfte sich wie im Falle Griechenlands das relativ hohe Zinsniveau bei der Aufnahme von Krediten als dauerhaft erweisen. So zumindest ist auch die zuletzt in der vorigen Woche erfolgte Anhebung der Risikoprämien für langfristige portugiesische Staatsanleihen zu deuten, deren Zinssätze nun um etwa vier Prozent über denen für Bundesanleihen liegen.
Dieses Horrorszenario lässt die portugiesische als eine kleine Schwester der »griechischen Krankheit« erscheinen. Vor allem bei der Nichteinhaltung der seit den Verträgen von Maastricht innerhalb der Euro-Zone geltenden Stabilitätskriterien befindet sich Portugal, wie auch die anderen PIIGS-Staaten, auf dem Wege Griechenlands. Die Staatsverschuldung, die nach den Vorgaben 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) nicht übersteigen darf, liegt in Portugal derzeit bei geschätzten 85,4 Prozent, während sie 2007 noch bei verhältnismäßig moderaten 63 Prozent lag. Und die Tendenz ist weiter steigend: Für das kommende Jahr erwartet die EU-Kommission einen Anstieg auf »mindestens 90 Prozent«. Das Haushaltsdefizit betrug im vergangenen Jahr statt der vorgesehenen Maximalgrenze von drei Prozent gewaltige 9,3 Prozentpunkte. Damit ist Portugal zwar noch weit von den griechischen Werten von 115 Prozent Staatsverschuldung bzw. 13 Prozent Haushaltsdefizit entfernt, noch weiter aber scheint der Weg zurück in die durch den Stabilitätspakt vorgegebene Gefilde zu sein.
Aber nicht nur hinsichtlich der staatlichen Bilanzen sieht die Lage der portugiesischen Volkswirtschaft alles andere als rosig aus. Das BIP ist im Jahr 2009 um 2,7 Prozent geschrumpft und die Außenhandelsbilanz wies für dasselbe Jahr ein Minus von über zehn Prozent auf. So überrascht auch die Arbeitslosenquote von 10,6 Prozent kaum. Derzeit scheinen aufgrund der Wirtschaftsstruktur Portugals kaum Möglichkeiten zu bestehen, diese Tendenz umzukehren. Die vor allem im Süden nach wie vor große Bedeutung der kurzfristig kaum produktiver zu gestaltenden Landwirtschaft und die geringe Produktivität des industriellen Sektors lassen derzeit wenige Wachstumsfaktoren erkennen. Hinzu kommt, dass auch räumlich kaum noch Expansionsmöglichkeiten in Portugals größtem Wirtschaftsbereich bestehen – dem Tourismus. Während sich an den Küsten der Algarve Bettenburg an Bettenburg reiht, ist die Atlantikküste wegen der klimatischen Bedingungen und des wilden Atlantiks zwar für Surfer, nicht aber für den Massentourismus geeignet. Wie bei den anderen schwächeren Volkswirtschaften des Euro-Raums ist zudem der Ausweg über eine Währungsabwertung versperrt.
Langfristig optiert die Regierung unter Premierminister José Sócrates (Sozialistische Partei) daher auch für eine grundsätzliche Veränderung der Wirtschaftsstruktur. »Wenn wir Güter für den Weltmarkt produzieren wollen«, dekretiert der Präsident des größten Arbeitgeberverbandes Confederacao da Industriá Portuguesa (CIP), António Saraiva, »dann müssen wir vermehrt auf Hochtechnologien und neues Know-how setzen.« Dafür müsse aber vor allem die Ausbildung der Beschäftigten deutlich verbessert werden. Die gerade erfolgte Verlängerung der Pflichtschulzeit von neun auf zwölf Jahre, weitere Schul- und Hochschulreformen sowie ein verstärktes Angebot bei der Erwachsenenfortbildung sollen die Leistungsfähigkeit des Bildungs- und Erziehungssystems steigern. Der Weg ist allerdings noch lang, denn obwohl sich die Ausgaben im Bildungssektor seit 2005 fast verdoppelt haben, liegt Portugal weiterhin unter dem EU-Durchschnitt. Immerhin hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) dem Land jüngst erste Erfolge und einen vorderen Rang bei der Erfüllung der Bologna-Ziele bescheinigt.

Kurzfristig aber setzt die sozialdemokratische Regierung, angetrieben durch die Haushaltskonsolidierungsvorgeben der EU, auf die Schleifung von sozialen Rechten und die Senkung des Lohnniveaus, um die Krise in den Griff zu bekommen. Um die »Ansteckungsgefahr«, so Finanzminister Fernando Teixeira dos Santos, durch die griechische Misere zu verhindern, hatte die Regierung unter Mithilfe der konservativen Opposition ein Sparprogramm aufgelegt, das den Vergleich mit denen in anderen krisengeschüttelten EU-Ländern nicht zu scheuen braucht und das durch die Verschärfungen vom Mittwoch voriger Woche völlig neue Dimensionen erhalten hat.
Die Personalkosten im öffentlichen Dienst sollen durch Streichung von Stellen und Kürzung der Gehälter ab 1 500 Euro monatlich um fünf bis zehn Prozent gesenkt, die Versicherungsleistungen teilweise reduziert und durch weitere Privatisierungen Geld in die öffentlichen Kassen gepumpt werden. Kern des Sparprogramms stellen aber die Erhöhungen des ohnehin schon hohen Mehrwertsteuersatzes um insgesamt drei auf 23 Prozent und der Einkommenssteuer um bis zu eineinhalb Prozent dar. Zudem sind weitere Einsparungen im Gesundheitssektor vorgesehen.
Insbesondere in der Steuerpolitik kehrt Portugal damit die Politik der vergangenen Jahre um, die vor allem von wirtschaftsliberalen Ökonomen und Anlegern stets gelobt wurde. Denn Portugal verfügt mit progressiven Einkommenssteuersätzen von 10,5 bis 42 Prozent und hohen Freibeträgen über einen der niedrigsten Sätze in Westeuropa. Zudem wurde 2004 die Körperschaftssteuer für Unternehmen um acht Prozentpunkte auf 25 Prozent gesenkt, um nun wieder um 2,5 Prozent angehoben zu werden.
Die Lasten dieser Maßnahme werden die Beschäftigten tragen müssen, die mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von durchschnittlich 1 100 Euro sowieso schon auf einem der geringsten Niveaus der alten EU verharren. Zumindest Deutschland hat sich bereits sehr zufrieden über das Sparprogramm geäußert: Die Reformpolitik der Regierung zeige, so ist auf der Internet-Seite des Auswärtigen Amtes zu lesen, dass sich Portugal offenbar bewusst sei, lange Zeit »über seine Verhältnisse« gelebt zu haben. Auch beim Treffen der EU-Finanzminister erntete das portugiesische Sparprogramm viel Lob, weil, wie der Chef des Rettungsfonds ESFS, Klaus Regling, vermutete, die Kreditgarantien der anderen Länder der Euro-Zone nun wahrscheinlich nicht in Anspruch genommen werden müssten und der Haushaltskonsolidierung, wie gefordert, höchste Priorität eingeräumt werde.
Das Sparprogramm wird nicht das Ende der Maßnahmen darstellen. Jean-Claude Juncker, der Vorsitzende der Euro-Gruppe, in der die Staaten der Euro-Zone ihre Steuer- und Wirtschaftspolitik koordinieren, forderte bereits, »die Haushaltsmaßnahmen mit weiteren umfassenden und ehrgeizigen Reformen zu unterstützen«. Dem will die Regierung in Lissabon nur zu gerne nachkommen. Teixeira dos Santos kündigte bereits an, die Reformen vor allem durch eine umfassende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes vorantreiben zu wollen. Von Protesten im eigenen Land wolle er sich jedenfalls nicht verunsichern lassen. Die mit wenig Nachdruck am 29. September vorgebrachten Forderungen nach »Würde« und »Gerechtigkeit«, Lohnerhöhungen und sicheren Renten dürften ihn dabei kaum geängstigt haben. Doch nach der angekündigten Verschärfung der Sparmaßnahmen stehen die Zeichen jetzt auf Protest. Für den 24. November hat der Gewerkschaftsdachverband einen Generalstreik angekündigt.