Die Grenze ist auf. Ägypten und der Gaza-Streifen

Die Brüder bringen Zement

Wenn es um Gaza geht, sind sich die ansonsten zerstittenen ägyptischen Oppositionellen einig. Präsident Hosni Mubarak hat nun die Grenze geöffnet.

Noch vor wenigen Jahren stand am Grenzübergang von Rafah ein einsamer Torbogen mitten in der Wüste. Mittlerweile befindet sich hier eine der am besten gesicherten Grenzanlagen der Welt, sogar unterirdische Trennwände sollen errichtet werden, um Tunnelbau zu verhindern.
An der Beliebtheit Rafahs als Ausflugsort für Aktivisten jeglicher Couleur hat die Monstrosität von Betonwall und Stacheldraht wenig geändert. Zuletzt saß am Dienstag der vergangenen Woche eine Gruppe von Muslimbrüdern 24 Stunden lang vor dem Tor zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen. Die Islamisten hatten Zement dabei. Den wollten sie den Bewohnern Gazas bringen, denen er nun schon seit drei Jahren für die Reparatur ihrer Häuser und auch für die Beerdigung ihrer Toten fehlt. Denn Zementtransporte lassen Israelis und Ägypter nicht passieren. Die israelische Regierung sagt, damit könne man auch Abschussrampen bauen.
Die Muslimbrüder konnten schließlich nur mit leeren Händen und zu Fuß die Grenze überqueren. Die ägyptischen Behörden beschlagnahmten die Transporter. Baumaterial zu verteilen, so die amtliche Begründung, sei Sache der UN-Flüchtlingsorganisation UNRWA. Dass die UNRWA palästinensische Flüchtlinge versorgt, heißt jedoch nicht, dass kein anderer es dürfte. Aber würde Ägypten den wahren Grund nennen, dass es nämlich die Blockade mitträgt, gäbe das Ärger im eigenen Land.

Dass die Muslimbrüder überhaupt nach Gaza spazieren und sich dort mit Repräsentanten der Bruderorganisation Hamas treffen können, ist neu. Als die Hamas im Jahr 2007 nach den Kämpfen mit der gemäßigten Fatah die Alleinherrschaft im Gaza-Streifen übernahm und Israel daraufhin eine Blockade verhängte, machte auch Ägypten seine Grenze dicht. Nur gelegentlich ließ man medizinische Hilfsgüter, Kranke, Mekka-Pilger oder Palästinenser mit einer Aufenthaltsgenehmigung für das Ausland durch. Als Bedingung für die dauerhafte Wiedereröffnung verlangte die ägyptische Regierung, dass die von der Fatah geführte Autonomiebehörde der Westbank die Grenze kontrollieren solle.
Seit dem 1. Juni ist die Grenze nun offen, und sie soll es auch bleiben, jedenfalls für Kranke und Palästinenser mit Visum. Weitere Maßnahmen, »die das Leben der Menschen im Gazastreifen erleichtern werden«, will die Regierung folgen lassen. Das ägyptische Regime reagiert damit auf den Druck der Straße. Nach dem Überfall des israelischen Militärs auf eine Schiffsflotille der Kampagne »Free Gaza«, bei dem neun Aktivisten ums Leben kamen, hat es in ganz Ägypten Demon­stranten gegeben.
Das Thema Gaza eint die sonst zerstrittene Opposition aus Muslimbrüdern, Wirtschaftsliberalen, Demokraten und Marxisten. Vor sechs Jahren erwuchs dem Regime ein ernstzunehmender Widersacher. Die Kifaya-Bewegung wagte es 2004 erstmals in der Geschichte der ägyptischen Republik, gegen den Diktator Hosni Mubarak zu demonstrieren. Kifaya heißt »genug«, und genug hatten die Oppositionellen von Mubarak, dem seit fast 40 Jahren herrschenden Präsidenten, dem wohl sein Sohn Gamal nachfolgen soll.
Möglich wurde der Erfolg, weil die Oppositionsgruppen sich verbündeten. Begonnen hatte deren Annäherung im Jahr 2000 mit der al-Aksa-Intifada. Unter dem Slogan der Solidarität mit Palästina organisierte man Demonstrationen, erst gegen Israel, dann gegen Mubarak. Die Kifaya-Bewegung ist mittlerweile zerfallen. Die Muslimbrüder fechten interne Kämpfe aus, und die linksnationalistische Tagammu kann sich nicht entscheiden, ob es richtig ist, mit den Islamisten zu kooperieren. Unter Kontrolle hat Mubarak die Lage jedoch keineswegs.

Seit dem Jahr 2004 hat es über 1 000 illegale Streiks gegeben. Eine Abwertung des ägyptischen Pfunds im Jahre 2003 und die seit dem folgenden Jahr zunehmenden Privatisierungen verlangten den Arbeitern und der Mittelschicht schmerzliche Opfer ab. Während die Unternehmer, zu denen auch Gamal Mubarak zählt, hohe Gewinne machen, hat über die Hälfte der 80 Millionen Ägypter gerade genug Geld, um sich subventioniertes Brot und Bohnen zu kaufen.
Seit Beginn des Jahres hat die Opposition nun eine über die Grenzen Ägyptens hinaus geachtete Integrationsfigur. Mohammed El Baradei ist, nachdem er den Vorsitz der Internationalen Atomenergiebehörde abgegeben hat, zurückgekehrt. Seine Anhänger aus der Nationalen Bewegung für den Wandel haben den Friedensnobelpreisträger schon bei seiner Rückkehr am Flughafen zum Präsidentschaftskandidaten gekürt.
El Baradei ist sich noch nicht sicher, ob er kandidieren wird. Erst einmal will er für mehr Demokratie kämpfen. Dafür hat er Forderungen gestellt, die sich kaum von denen der Kifaya-Bewegung unterscheiden: Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten, Aufhebung der Notstandsgesetzgebung, leichtere Zulassung von unabhängigen Kandidaten. Bevor er 2011 für das Präsidentenamt kandidiere, müssten diese Voraussetzungen erfüllt sein, sagte El Baradei. Doch jeder weiß, dass Mubarak alles tun wird, um demokratische Reformen zu verhindern.
El Baradei ist es gelungen, eine heterogene Bewegung hinter sich zu versammeln, bestehend vor allem aus jungen Angehörigen der gut ausgebildeten, aber schlecht verdienenden Mittelschicht. Nach Ansicht Amr Hamzawys vom Carnegie-Nahostzentrum in Beirut könnte diese Bewegung sogar der Muslimbruderschaft den Platz als wichtigste Oppositionsgruppe streitig machen. El Baradei könnte der gemeinsame Kandidat der zerstrittenen Opposition werden.

Einschüchtern und verhaften wie einen gewöhnlichen Oppositionellen kann man El Baradei wohl kaum. Allerdings scheint Mubarak ohnehin milder geworden zu sein. Die Forderungen von Streikenden werden derzeit fast immer erfüllt. Der Muslimbruderschaft gestand man bei den letzten Parlamentswahlen mehr Kandidaten zu als sonst. Zwar mussten sie als Unabhängige antreten, denn religiöse Parteien sind verboten, doch Mubarak nahm in Kauf, dass die Muslimbrüder nun mit viermal sovielen Abgeordneten vertreten sind wie zuvor. In diese Linie passt die Öffnung der Grenze zum Gaza-Streifen.
Mubarak hatte gute Gründe, die Blockade zu unterstützen. Er fürchtete die aus der Muslimbruderschaft hervorgegangene Hamas ebenso wie eine Stärkung der nun recht moderat auftretenden Muslimbrüder im eigenen Land. Noch viel gefährlicher sind derzeit jihadistische Gruppen, ihre Terrorangriffe auf Touristenorte zielen auf die wichtigste Devisenquelle. Die »Red Sea Riviera« mit ihren berühmten Stränden und Korallenriffen ist nicht weit vom Gaza-Streifen entfernt.
Außerdem befürchtet Mubarak, dass Israel ihm langfristig die Verantwortung für den Gaza-Streifen zuschieben könnte. Abwegig ist das nicht. Der einflussreiche konservative Publizist Daniel Pipes plädierte vor zwei Jahren in der Jerusalem Post dafür, dass die »internationale Gemeinschaft« den Gaza-Streifen Ägypten schenken solle. Von 1948 bis 1967 habe das Territorium unter ägyptischer Kontrolle gestanden. Außerdem sprächen die Bewohner einen ähnlichen Dialekt wie die Ägypter des Sinai und hätten dank der Schmugglertunnel gute wirtschaftliche Beziehungen mit Ägypten, argumentierte Pipes.
Auf ein solches Geschenk möchte Mubarak jedoch gern verzichten. Solange die israelische Regierung ihre Haltung nicht ändert, wird ihm wohl nichts übrig bleiben, als die Grenze früher oder später wieder zu schließen.