Die Krise zwischen der Türkei und Israel

Zurück zu den Osmanen

Die Krise in den Beziehungen zwischen der Türkei und Israel hat sich im vergangenen Jahr deutlich verschärft. Die türkische Regierung hat immer mehr die Nähe zu is­lamischen Ländern gesucht. Das hat nicht nur außenpolitische Folgen.

Die türkischen Generäle haben es schon immer vermutet: Es gebe keinen gemäßigten Islamismus, jede gemäßigte Form werde in einer radikaleren enden. So hatte es vor zwei Jahren der ehemalige türkische Generalstabschef Yasar Büyükanit formuliert, bevor er Ende April 2007 Putschdrohungen auf der Internetseite des Generalstabes veröffentlichte und mit dem ersten Internetputsch der Geschichte scheiterte.
Beobachter der türkischen Außenpolitik fragen sich derzeit vermutlich, ob in den Worten des Generals nicht ein Fünkchen Wahrheit enthalten ist. Kurz nachdem Ende September die Existenz einer atomaren Anlage in der Nähe der iranischen Stadt Qom bekanntgegeben wurde, fuhr Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan für drei Tage nach Teheran. Während die sonst eher zurückhaltende Internationale Atomenergieorganisation sowie die Staaten der EU und die USA den Iran scharf kritisierten, lobte Erdogan das iranische Atomprogramm als »humanitär«. Die Befürchtungen Israels und westlicher Länder, die Anlage könne für militärische Zwecke benutzt werden, bezeichnete Erdogan als »Geschwätz«.

Mitte Oktober lud die Türkei Israel von einem großen Nato-Manöver in Anatolien aus. Man könne nicht zulassen, dass israelische Kampfflugzeuge, »die im Gaza-Streifen Palästinenser angegriffen haben, in unserem Himmel herumfliegen«, hieß es zur Begründung. In derselben Woche institu­tionalisierte die Türkei ihre militärische Zusammenarbeit mit Syrien. Die Regierung kündigte an, diese Zusammenarbeit auf den Irak und den Iran ausweiten zu wollen.
Die Krise zwischen Israel und der Türkei hat sich seit Anfang des Jahres verschärft. Während der militärischen Offensive im Gaza-Streifen im Januar positionierte sich die Türkei deutlich gegen Israel; beim Gipfel in Davos beschimpfte Erdogan den israelischen Staatspräsidenten Shimon Peres öffentlich.
Gleichzeitig wird die Haltung der Türkei gegenüber islamischen Ländern offenbar immer unkritischer. Es sind vor allem fundamentalistische, antiwestliche und militant antiisraelische Regime, deren Nähe gesucht wird. Die Beziehungen zu Sudan sind derzeit besser als die zu Ägypten, die zum Hamas weit wichtiger als die zur PLO.
Orientiert sich die Regierung Erdogan, die bis vor einigen Jahren die Annäherung an die EU so eifrig betrieben hatte, außenpolitisch um? Waren die Schritte in Richtung einer Demokratisierung nur ein innenpolitischer Versuch, die Macht des Militärs zu schwächen?
Erdogans Politik ist nicht von spontanen Regungen und Kurswechseln gekennzeichnet, wie manchmal im Ausland vermutet wird. Die Außenpolitik der türkischen Regierung stützt sich auf ein langfristiges Konzept, das nicht von Erdogan stammt, sondern eher von einem unscheinbaren Professor namens Ahmet Davutoglu, der im Mai zum Außenminister ernannt wurde. Mit seiner zierlichen Gestalt und seinem unaufdring­lichen Wesen wirkt Davutoglu manchmal wie ein weltfremder Fachmann für ein unbedeutendes akademisches Gebiet. Bereits lange vor seiner Ernennung zum Außenminister galt er als der Architekt der türkischen Außenpolitik. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy wollte ihn als diplomatischen Begleiter für einen Besuch in Syrien im Januar 2009, und der ehemalige US-amerikanische Botschafter in Ankara, Mark Parris, bezeichnete ihn als den »Henry Kissinger der Türkei«.

Früher kamen fast alle türkischen Außenminister aus dem bürokratischen, republikanischen Establishment. Sie verfolgten eine meist passive Außenpolitik und waren immer ängstlich bemüht, keine türkischen Positionen zu gefährden. Die Beziehungen zu den Nachbarländern waren meist schlecht.
Davutoglu wurde in einer ländlichen Gegend in der Region Konya geboren, wo die Winter kalt und schneereich, die Sommer heiß und trocken sind und die Religion das Leben bestimmt. Aus Konya stammt auch der amtierende Staatspräsident Abdullah Gül, an dessen Seite Davutoglu erstmals Einfluss auf die türkische Politik gewann.
Im Jahr 2001 veröffentlichte Davutoglu sein Hauptwerk unter dem Titel »Strategische Tiefe: die internationale Lage der Türkei«. Darin vertrat er die These, die Türkei solle sich an der früheren osmanischen Politik orientieren, der türkischen Außenpolitik fehle es an strategischer Tiefe. Die einst von den Osmanen beherrschten arabischen Gebiete im Osten sowie weitere islamische Länder und auch der alte Kontrahent Russland müssten in der türkischen Außenpolitik eine größere Rolle spielen. Der Festungsmentalität der bisherigen türkischen Politiker setzte Davutoglu in seinem Buch die Devise »keine Probleme mit den Nachbarländern« entgegen. Der neue »Blick nach Osten« in der türkischen Politik bedeutet für ihn keineswegs eine Abwendung von Europa und den USA. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU betrachtet er vielmehr als Voraussetzung dafür, dass die Türkei in der islamischen Welt überhaupt ernst genommen und nicht mehr als bloße Mitläuferin der westlichen Mächte betrachtet wird. Auf der anderen Seite könne auch die EU von guten Beziehungen der Türkei zu den islamischen Ländern profitieren.
Nach Davutoglus Theorie sei die Türkei früher »ein Spieler mit starken Muskeln, einem schwachen Magen, Herzproblemen« und einem »ziemlich mittelmäßigen Gehirn« gewesen. Das soll heißen: Die Türkei besaß eine starke Armee, eine schwache Wirtschaft und weder Selbstvertrauen noch strategisches Denken.
Mit diesen Mängeln haben Davutoglu und Erdogan in den vergangenen Jahren gründlich aufgeräumt. Dabei trug die Relativierung der Rolle der Armee in der Außenpolitik auch zu deren innenpolitischer Schwächung bei.
Diese Politik, die gelegentlich als »Neo-Osmanismus« bezeichnet wird, ist in der Türkei umstritten. Kritiker betonen, dass eine Re-Osmanisierung der Außenpolitik zu einer Re-Islamisierung der Türkei führen würde. Andere Kritiker meinen, dass dieses Modell auf einem Spagat beruhe, der irgendwann einmal einfach scheitern müsse.

Erdogans Politik lässt sich nicht nur ideologisch, sondern auch funktional analysieren. Selbst die Hinwendung zu den radikalen islamischen Ländern kann man so verstehen, denn es sind die, zu denen der Westen keine Beziehungen hat und zu denen er daher einen Vermittler braucht. Als solcher will sich die Türkei offenbar profilieren. Im Falle des Iran kommen ökonomische Interessen dazu.
Doch das Ganze hat auch eine innenpolitische Komponente. Die Kritik an Israel hat den Streit um das Kopftuch als ideologisches Bindeglied der konservativen Massen an Erdogans Partei AKP abgelöst. Damit knüpft Erdogan, wenn auch vermutlich nicht ganz bewusst, an weitverbreitete antisemitische Ressentiments in der Bevölkerung an.
Das andere Problem ist, dass sich die türkische Außenpolitik stark auf einen als »kulturelle Differenz« wahrgenommenen Gegensatz zwischen Osten und Westen bezieht. Erdogans Hinwendung nach Osten stellt keinen radikalen Wandel dar, und trotzdem entfernt sich die türkische Republik dadurch deutlich von den westlichen politischen Standards. Aber: Erdogan steht nicht für die ganze Türkei. Es wird vermutlich nicht so einfach sein, den türkischen Staat von Europa zu entfernen, auch ohne wachende Generäle.