Die Schweinegrippe

Wenn der Bauer niest, fiebert das Schwein

Das Erbgut des neuen Influenza-Virus wurde entschlüsselt, doch der Ursprung der Krankheit ist ebenso unbekannt wie ihre potenzielle Gefährlichkeit.

Man musste die Meldung zweimal lesen, um den Sinn richtig zu verstehen. Zum ersten Mal seit dem Auftreten der so genannten Schweinegrippe bei Menschen in Mexiko sei am Sonntag auch eine Infektion bei Schweinen nachgewiesen worden, und zwar in Kanada. In der Provinz Alberta ist die neue Variante des Subtyps Influenza A/H1N1, wie der Virus jetzt von Wissenschaftlern und zunehmend auch Journalisten genannt wird, bei Schweinen festgestellt worden. Auch der Infektionsweg konnte in diesem Fall nachvollzogen werden. Der betreffende kanadische Bauer war mit Grippesymptomen aus Mexiko zurückgekehrt und zwei Tage später wieder zur Arbeit erschienen. Da hatte er seine Grippe wohl noch nicht ganz auskuriert, die Schweine wahrscheinlich angeniest und so infiziert.
Flankiert wurde die Meldung vom kanadischen Bauern und seinen Schweinen von der Mitteilung, dass Frankreich seine Maßnahmen gegen die »Schweinegrippe« verschärft habe. Wer aus Mexiko heimkehrt und mit Kindern zu tun hat, sollte eine Woche nicht zur Arbeit gehen, ließ die französische Gesundheitsbehörde verlauten. Unwillkürlich wollte man da fragen, was denn mit Bauern sei, die in Kanada Urlaub gemacht hatten. Müssten die nicht auch mindestens eine Woche ihre Schweine meiden, um dem Influenza-Virus die Ausbreitungswege zu versperren? Wahrscheinlich schon, aber da kam gleich noch die Meldung hinterher, dass der kanadische Bauer inzwischen wieder gesund sei und auch seine Schweine sich erholt hätten.

Der milde Verlauf der Grippe bei Bauer und Schweinen in Kanada passte zu den weitaus meisten Berichten von menschlichen Patienten, bei denen man den neuen Influenza-Virus als Ursache für Grippesymptome erkannt hatte. Auch die Zahl der Todesfälle in Mexiko ist möglicherweise weit geringer als zunächst angenommen wurde. Nur bei einem Bruchteil der mehr als 150 Verstorbenen, die verdächtige Symptome aufwiesen, wurde der Virus A/H1N1 nachgewiesen.
Trotzdem wolle, so hieß es in einer weiteren Meldung, die Weltgesundheitsorganisation WHO demnächst die höchste Pandemiewarnstufe ausrufen und der Spiegel, Spezialblatt für Seuchen spätestens, seit Aids und der HIV-Virus Anfang der achtziger Jahre in einen Zusammenhang gebracht worden sind, brachte den neuen »Weltvirus« gleich auf das Titelblatt.
Das alles mag wirr klingen, doch sind die Berichte über die neue Variante des Subtyps Influenza A/H1N1 ein Beispiel dafür, wie wenig man weiß, wenn man alle möglichen Informationen zusammenwürfelt, ohne die Fragestellung und die Wissenslücken im Auge zu behalten. Die Fragestellung kann nur lauten, wie eine Grippepandemie verhindert werden kann. In Deutschland sterben zwischen 5 000 und 10 000, weltweit um die 200 000 Menschen jährlich an den Folgen von Grippe-Erkrankungen. Eine Pandemie könnte weit­aus mehr Menschen das Leben kosten.
Daher hat die WHO schon recht, wenn sie erwägt, die höchste Pandemiestufe auszurufen. Die Voraussetzung dafür ist eine stetig wachsende Rate an Krankheitsübertragungen von Mensch zu Mensch, wie sie derzeit in Nordamerika zu beobachten ist. Für Nordamerika sind also die Bedingungen gegeben, die eine Pandemie befürchten lassen, und dabei ist es erstmal egal, dass die Grippe bislang normalerweise relativ harmlos verläuft. Wichtig ist vor allem, dass es der Virus auf Tiere als Quelle oder Überträger nicht mehr angewiesen ist. Das ist der große Unterschied zur so genannten Vogelgrippe, bei der sich alle Erkrankten bei einem Vogel angesteckt hatten. Die WHO macht also gerade einiges richtig, obwohl auch sie ein paar Tatsachen kaum beachtet.

Die immer wieder als Beispiel herangezogenen Spanische Grippe, die von 1918 bis 1920 wütete und um die 40 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, fiel nicht in irgendeine Zeit. Sie traf auf Bevölkerungen, die gerade den bis dahin verheerendsten Krieg der modernen Menschheitsgeschichte hinter sich hatten, also in vielerlei Hinsicht geschwächt gewesen sein dürften. Dass die großen Seuchen der Menschheitsgeschichte fast immer mit Kriegen und Hungersnöten einhergingen ist, ist bekannt.
Mexiko zählt zu jenen Ländern, in denen sehr viele Menschen wegen ihrer extremen Armut anfälliger für Infektionen sind und keine Krankenversicherung haben. Eine ausreichende Grundversorgung unter hygienisch akzeptablen Bedingungen gibt es nur für eine Minderheit. In den USA gehen andauernd Menschen krank zur Arbeit, weil sie Angst haben, sonst ihren Job zu verlieren. Solche Bedingungen fördern die Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten, unabhängig von deren Gefahrenpotenzial.
Auf eine krude Art wurden die sozialen Faktoren, die Krankheiten regelmäßig auch bedingen, in die Berichterstattung um die aktuellen Ereignisse eingespeist. Als Enstehungsherd galt in vielen Berichten der Ort La Gloria im mexikanischen Bundesstaat Veracruz (siehe Seite 15). Dort hält ein Subunternehmen des größten Schweinekonzerns der Welt, Smithfield Foods, über eine Million Schweine, und bei einem kleinen Jungen hatte man dort tatsächlich den neuen Virus nachweisen können.

Pech war in diesem Fall für die Ursachenforscher nur, dass sich bei den Schweinen bislang keine Viren finden ließen. Smithfield Foods gibt an, die Tiere regelmäßig geeimpft zu haben. Der Virus kann ebenso von einem Wanderarbeiter aus den USA eingeschleppt worden sein, wie er in Mexiko eventuell hätte entstehen können. Der erste, der in diesem Zusammenhang vernünftig reagierte, war Barack Obama. Die Forderung, die Grenze zu Mexiko zu schließen, wies er zurück: »Das wäre, als schließe man das Scheunentor, nachdem die Pferde ausgerissen sind.« Er hat damit nicht nur von den Schweinen abgelenkt, sondern auch die rassistische Zuschreibung der Grippe als mexikanisch vermieden.
Tatsächlich ist aber auch die Bezeichnung »Schweinegrippe« nicht ganz falsch. Das Erbgutsegment der neuen Variante des Influenza-Typs zeigt eine Mischung aus zwei bekannten Schweine­grippevieren mit Anteilen, die von Vögeln stammen und zuerst 1998 bei Schweinen in nord­ameri­kanischen Farmen unter anderem in Ohio entdeckt wurden. Wie sie aber von da ihren Weg zu den Menschen fanden, weiß niemand, und es wird wohl auch niemand mehr rekonstruieren können. Das Erbgut des Virus wurde mittlerweile ziemlich genau entschlüsselt, doch ist dieses Wissen allein nicht allzu hilfreich. Man kann zwar fast in Echtzeit verfolgen, wie sich der Virus in seiner Evolution verändert, Aussagen über seine Infektiösität lassen sich daraus aber genausowenig ableiten wie über den zu erwartenden Krankheitsverlauf.