Sind SMS subversiv?

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Zumindest in einem sind sich der Wissenschaftsbetrieb und die Webcommunity ­einig: SMS-Codes sind radikal subversive Kommunikationsformen. Wer etwas an­deres behauptet, ist ein Bildungsbürger.

Noch vor einigen Jahren als linguistisches Epiphänomen des Jugendalltags abgetan, sind SMS-Sprachen mittlerweile zum akademisch geadel­ten Gegenstand avanciert. Nicht nur werden die sich ständig ändernden und gewaltig expandierenden Glossare, Formeln, Kürzel und Kunstwörter, die bei solcher Kommunikation beherrscht werden müssen, in Handbüchern und auf Seiten wie Finde-finde.de zusammengetragen, auch die Wissenschaft hat das Feld der elektronischen Kürzel- und Para-Sprachen längst als besonders ergiebig für das Anzapfen staatlicher und privater Finanzquellen entdeckt. Meist unter dem Schlagwort der »Medienkompetenzforschung« werden die vermeintlich vielfältigsten »Aneignungsformen« untersucht, mit denen sich vor allem jugend­liche Nutzer die Welt der Chat­rooms, der Blogs und der Handy-Kommunikation erschließen. In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es inzwischen Dutzende Forschungsprojekte zum Thema, das sich auch für spannende Fragestellungen für erziehungswissenschaftliche oder linguistische Seminare und Hausarbeiten eignet und sich als Popularität versprechendes Angebot beim »Jahr der Geisteswissenschaften« etablieren konnte. Die postpubertäre Begeisterung, die Medienpädagogen, Sprach- und Literaturwissenschaftler dabei für den offenbar immens subversiven, kritischen und souveränen Umgang Jugendlicher mit ihrem Handy oder PC an den Tag legen, widerlegt jeden Verdacht, es könnte sich bei ihnen um spröde, von fiesen bürgerlichen Bildungsidealen besessene Akademiker handeln, an deren gesellschaftlicher Nützlichkeit immer stärker gezweifelt wird.
Die Beschäftigung mit den hauptsächlich zur Alltagskommunikation zählenden SMS-Sprachen kann sich auf einen Zweig der Sozial- und Erziehungswissenschaften berufen, der in den siebziger Jahren nicht zu unrecht als eine der fortschrittlichsten Branchen im Wissenschaftsbetrieb galt – die Sprach- und Medienpragmatik, die sich weigerte, die gesellschaftlich etablierte, im »Duden« kodifizierte Normsprache zum alleinigen Analyse- und Bewertungshorizont ihrer Arbeit zu machen. Daher rückte sie fortan den konkreten Sprachgebrauch in den Mittelpunkt ihres Interesses.
Im Zuge dieser Neujustierung gerieten ganz selbstverständlich auch bislang vernachlässigte Medien in den Blick. Die normative Kraft der Schriftsprache wurde infrage gestellt, mündliche, visuelle und grammatisch inkorrekte, proviso­rische Schreibweisen untersucht, Dialekte, Soziolekte und minoritäre Gruppensprachen wurden aus ihrem Nischendasein in einen fast sprachphilosophischen Rang erhoben. Bereits im Zuge dieser Entwicklung, die sich seinerzeit noch gegen die Engstirnigkeit bürgerlicher Pädagogik und ihren selektiven Bildungsbegriff richtete, entwickelte sich »die Jugend« mehr und mehr zum wichtigsten, fetischistisch verehrten Referenzobjekt. Waren es doch mehrheitlich Jugendliche, die jene »minoritären« Kommunikationsformen erprobten, für die der akademische Markt sich zu öffnen begann, und konnte man doch durch Interesse für jugendliche peer groups und Minderheiten aller Art ganz nebenbei auch noch die sozialpolitische Relevanz der eigenen Disziplin unter Beweis stellen.

Die Verachtung der Normsprache, in deren grammatischer und syntaktischer Ordnung sich gleichsam die Ordnung der Herrschaft sedimentiert habe und die deshalb als Element einer repres­siven »Leitkultur« unbedingt abzulehnen sei, ist dank solch jahrzehntelanger Vorarbeit inzwischen ihrerseits zum akademischen Standard geworden. Insbesondere wenn poststrukturalistisch geschulte Medientheoretiker ihre pädagogische Berufung zu entdecken glauben, gibt es kein Halten mehr. Ihnen erscheint noch jede Idee einer verbindlichen Normsprache, un­abhängig von ihrer konkreten politischen und ideo­logischen Bedeutung, als quasi-kolonialis­tische Zumutung, der sich die »Vielheit« der minoritären Gruppen und Cliquen mit ihren krass subversiven Kommunikationsstrategien mutig widersetzen.
Als Einspruch gegen die Vorstellung einer homogenen und naturwüchsigen Nationalsprache, wie sie ja tatsächlich alle staatstragenden Parteien auf dem Feld der Bildungs- und Integrationspolitik propagieren, mag solch unkritisches Lob der »Vielheit« und der sprachlichen Desorganisation nachvollziehbar sein. Regelmäßig vergessen wird dabei jedoch, dass das organizistische Bild der Nationalsprache, gegen das hier angekämpft wird, selbst eine Fiktion ist. In Wahrheit ist jede elaborierte Normsprache ein offenes Gebilde. Dessen Regeln müssen allerdings verinnerlicht und reflektiert werden, um es über sich hinauszutreiben und ihm Dimensionen abzugewinnen, die sein schlecht normatives Moment überschreiten.

Einfacher gesagt: Um den repressiven Gehalt einer Normsprache kritisieren zu können, muss man sie zunächst einmal beherrschen. Ist dies nicht der Fall, regredieren Sprache und Denken notwendig auf den Stand behavioristischer Reiz-Reaktions-Schemata, die das Individuum von jeder reflektierenden Aneignung des eigenen kommunikativen Handelns abhalten. Damit wird es blind, und so erst recht repressiv den elektronischen Impulsen ausgesetzt, auf die Sprache im Modus von SMS-Kürzeln zunehmend herunterkommt. Mag sein, dass dies aus strikt pragma­tischer Sicht auch Vorteile birgt: Endlich lassen sich all die sprachlichen Umwege umgehen, mit denen sich die Briefeschreiber früher plagten. Sendung und Empfang der Nachricht finden nahezu gleichzeitig statt, so dass es keiner lästigen Wartezeiten bedarf. Für sich ständig unter Hochdruck verausgabende Manager wären die SMS-Sprachen also wohl das adäquate Kommunikationsmittel.
In Wirklichkeit werden sie jedoch, wie gerade einschlägige sprachwissenschaftliche Studien belegen, von der jugendlichen Kommunikationsavantgarde fast ausschließlich zu Zwecken benutzt, bei denen weniger Hyperaktive nicht einmal erwägen würden, zum Telefon zu greifen. Gerade weil dieselben Menschen, die in der U-Bahn keine Minute still sitzen können, weil sie ständig, wenngleich völlig zweck- und folgenlos, »kommunizieren« müssen, meist keine andere Beschäftigung als ebenjene Kommunikation haben und eine lebenslange, allenfalls durch Hilfsjobs kaschierte Arbeitslosigkeit auf sie wartet, müssen sie permanent in Bereitschaft gehalten und mobilisiert werden, bis ihnen selbst Liebesbotschaften als kommunikative Arbeit erscheinen.
Sich für die sprachliche Formulierung und den subjektiven Ausdruck Zeit zu lassen, ja selbst noch die Dauer der Erwartung einer Nachricht als solche wahrzunehmen, ist freilich genau das, was eine solche Liebesbotschaft eigentlich ausmacht. Wer nicht mehr fähig ist, die Arbeit an der Sprache, sei es zum Zwecke von Liebesbezeugungen oder auch nur zum Zwecke pragmatischer Kommunikation, als Prozess wahrzunehmen, der seine eigene Zeit und seinen eigenen Raum benötigt, dem sind von vornherein die allermeisten Mittel verloren gegangen, um vielleicht einmal ein mündiger Mensch zu werden. Entsprechend unmündig wirken sie dann auch, die Vertreter der »medienkompetenten«, jugendlichen Avantgarde. Dass die universitären Resteverwerter sich in Zeiten zunehmender Erosion der Geisteswissenschaften ausgerechnet auf sie stürzen, dürfte kein Zufall sein.