Trinkerproteste in Istanbul

Ein Efes für die Freiheit

In einem kleinen Lokal am Pier von Istanbul wird kein Alkohol mehr ausgeschenkt. Steckt eine islamisch motivierte Regierungs­kampagne dahinter? Das vermutet eine klei­ne Bewegung, die seit einigen Wochen »für eine beschwipste Türkei« demonstriert.

Moda ist eines der wenigen übrig gebliebenen grünen Viertel Istanbuls. Ein kleiner Hügel senkt sich sanft zum Marmara-Meer. Die Häuser sind nicht höher als vier Stockwerke, auf ihren Balkonen sitzen die Anwohner bis Sonnenuntergang und genießen einen bezaubernden Blick über glitzerndes Wasser. Das kleine Restaurant am asiatischen Bosporusufer ist über einen breiten Holzsteg zu erreichen. 1917 wurde das elegante Holzgebäude durch den Architekten Vedat Tek gebaut. Schiffe und Boote konnten hier anlegen, bis in die achtziger Jahre war der Anlegeplatz eine beliebte Badestelle. Auch wenn heute nur noch kleine Jungen aus den Banliyös und die Hunde der Anwohner in das trübe Wasser tauchen, bleibt die Promenade an der Bucht ein belebter Spazierweg. Das Lokal ist nach einer umfassenden Renovierung wieder attraktiv geworden, auffällig ist jedoch die Polizei, die freitagabends vor dem Steg patrouilliert. Immer wieder donnert ein Polizeimotorrad die Promenade entlang, der Fahrer darauf bellt in sein Sprechfunkgerät. Gegen 21.30 Uhr rückt eine Menge von etwa hundert Männern an den kleinen Steg. Mittlerweile hat sich dort eine halbe Hundertschaft der Polizei postiert.

»Wir überlassen Moda nicht den Fanatikern«, brüllt ein eleganter Herr mit gepflegtem Kinnbart in sandfarbenem Leinenanzug und nimmt einen tiefen Schluck aus seiner Bierdose. Sprechchöre aus der Menge, alle fangen an zu trinken. Langsam holen sie Flaschen und Dosen aus Manteltaschen und Tüten, die Hände der Polizisten umkrallen Pistolen, Sprechfunkgeräte und Schlagstöcke. Was ist hier los? Die Antwort steht auf den Transparenten: »Für eine trinkfreudige Türkei«. Durch dieses Kollektivtrinken am Pier von Moda wird seit zwei Monaten »gegen Fanatismus und Spießig­keit« protestiert.
Auslöser ist die Übernahme des Pierlokals durch die Tourismusfirma Beltur. Die Firma arbeitet mit der von der konservativen AKP regierten Oberstadtverwaltung von Istanbul zusammen, die alle städtischen Einrichtungen gastronomisch verwaltet. Dazu gehören etwa auch die Teebuden und Kioske an den Anlegestellen am Bosporus. Die Gastrokette zeichnet sich dadurch aus, dass sie qualitativ gut und günstig ist, aber keinen Alkohol verkauft.

Tonguç Koç schwankt etwas, offensichtlich ist das nicht sein erstes Bier. Wie alle anderen am Pier bevorzugt er die lokale Biermarke Efes. Bei den vergangenen Wahlen kandidierte er erfolglos für die Kommunistische Partei der Türkei, heute ist er einer der Initiatoren des trinkfreudigen Protests. »Seit die reaktionären Religiösen die Oberstadtverwaltung leiten, macht eine Bar nach der anderen dicht«, schimpft er. Diese Tendenz ist allerdings nicht neu und geht auf die neunziger Jahre zurück. Eine der ersten Maßnahmen des damaligen Oberbürgermeisters von Istanbul und heutigen Ministerpräsidenten Recep Tayyıp Erdogan nach seinem Amtsantritt 1994 war nämlich die Auflösung eines Vertrages mit dem türkischen Automobilclub, der damals kleine Residenzen aus osmanischer Zeit betrieb, die der Stadt gehörten. Der Automobilclub hatte jahrelang nur eine symbolische Miete für diese exklusiven Standorte bezahlt, sich nie um die Instandhaltung geschert und drittklassiges Essen sowie lokale Spirituosen zu übertriebenen Preisen verscherbelt. Als 1994 die Stadt als Betreiberin einsprang, hielt sich der Protest in Grenzen. Das Essen wurde besser, das Ambiente gepflegter und die Preise angemessener. Nun argumentiert der heutige Oberbürgermeister Kadir Topbas, die AKP wolle nur öffentliche, preiswerte »volksnahe« Einrichtungen schaffen, die von ärmeren und religiöseren Familien besucht werden können.
Dies war allerdings bei dem kleinen, von der Kammer der Reedereien und der Schiffahrtsbehörde betriebenen Lokal am Pier von Moda bereits seit mehreren Jahren der Fall. Zum Essen gab es hier neben Softdrinks auch Wein, Bier und Raki zu angemessenen Preisen. Gäste konnten ihren eigenen Fisch mitbringen und sich ihn für einen Euro pro Portion zubereiten lassen. Koç betont, dass er früher mit seiner Frau dort immer am Hochzeitstag essen gegangen sei. Das scheinen viele Bewohner von Moda ähnlich gehalten zu haben, denn die geringe Anzahl der Gäste war einer der Hauptgründe der Übergabe an die Stadtverwaltung, die Anfang des Jahres eine Grundrenovierung übernahm.

Die Menge ist nach einer halben Stunde in Hochstimmung, leere Dosen und Flaschen füllen mitgebrachte Müllbeutel: »Moda ist unsere Festung, die niemand besiegen wird«, wird gerufen. Die meisten wiegen sich und schwenken die Getränke zu agitativen Marschmelodien. Koç kommt immer mehr in Plauderlaune: »Neulich hat man eine Ladung Frauen mit Kopftuch in Bussen zum Lokal gekarrt«, erzählt er. »Die wollen hier Präsenz demonstrieren.« Hinter seinen Worten verbirgt sich jedoch alles andere als eine aufgeklärte Haltung, wie seine »Analyse« über die Türkei beweist. Das Land sei nämlich eine von den Amerikanern ferngesteuerte »Sekten-Republik«. Das Land diene ferner als Brückenkopf für das US-amerikanische »Projekt Mittlerer Osten«, halluziniert er weiter.
Die ersten Gäste, die mittlerweile aus dem von Beltur betriebenen Lokal schlendern, sagen etwas mehr aus über den Protest, als die von Koç vorgetragenen Verschwörungstheorien. Es ist keine einzige Kopftuchträgerin zu sehen, Die Gesichter sind zufrieden, die Leute scheinen gut gegessen und nichts vermisst zu haben. Das teuerste Gericht auf der Speisekarte sind Lammfiletspitzen mit Tahini und Cumin für sechs Euro. Dazu gibt es Kristallsoda, Ayran und Cola Turca, normal oder light. Moda ist ein durch und durch linksliberales Viertel. Und so wird es vermutlich auch eine Weile noch bleiben. Auch wenn es im Fall vom Lokal am Pier vielleicht übertrieben ist, von einer islamisch motivierten Kampagne der Regierung zu sprechen, sind die Versuche in Richtung einer Islamisierung des öffentlichen Lebens in Istanbul nicht zu übersehen. Erdogan äußerte sich beispielsweise nicht zu den Übergriffen auf Alkohol verkaufende Kioske in Ankara und Anatolien während des Ramadan. Die Demonstranten von Moda bezeichnete er dagegen als Menschen, »deren Perspektive der Boden einer Flasche« sei. Langsam und friedlich ziehen die Trinker schließlich den Pier entlang in Richtung des Istanbuler Nachtlebens, das gerade angefangen hat und bis in den frühen Morgen pulsieren wird.