Jugendliche in São Paulos Armenvierteln organisieren sich

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Für die Stadtverwaltung São Paulos sind die Armenviertel unbekanntes Terrain. In Jardim São Luis sammeln Jugendliche nun Daten, um ihre Rechte einfordern zu können.

Es ist nicht leicht, in São Paulo den Überblick zu behalten. Etwa 20 Millionen Menschen leben im Großraum der brasilianischen Metropole, viele von ihnen in Armenvierteln wie Jardim São Luis, einem Distrikt des Bezirks M’Boi Mirim im Süden der Stadt. Viel Platz haben die 19 000 über­wiegend jugendlichen Bewohner nicht in den fünf Quadratkilometern des Jardim São Luis. »Wenn die Eltern abends nach Hause kommen, ist für Kin­der und Jugendliche nur noch auf der Straße Platz zum Spielen«, erzählt Fatima, Koordinatorin des »Hauses der Jungs und Mädchen.«
Allein im Jahr 2006 wuchs die Bevölkerung des Distrikts um ein Drittel. Von den 6 600 Kindern, die 2006 geboren worden, hatten 1 000 Mütter, die erst zwischen zehn und 19 Jahre alt wa­ren. »1 000 neu geborene Kinder bedeuten, dass wir zehn neue Krippen brauchen. Es gibt sowieso viel zu wenige.« erklärt Silva, Gründer des Hauses, in dem zur Zeit 85 Jugendliche aus den umliegenden Vierteln ihre Nachmittage und Abende verbringen. Finanziert wird das Jugendhaus mit einem staatlichen Förderprogramm.

Es ist schon etwas besonderes, dass die Jugendlichen dort Platz zum Fußballspielen und einen kleinen Park haben. Der Mangel ist unübersehbar, es fehlt an medizinischer Versorgung, Krippen- und Spielplätzen sowie Erholungsmöglichkeiten. Doch was gebraucht wird, weiß die Stadtverwaltung nicht. Erst die Jugendlichen im Haus der Jungs und Mädchen begannen, Daten zu sammeln.
Im vergangenen Jahr sind sie in ihrem Viertel von Haus zu Haus gelaufen und haben Daten aufgenommen über fehlende Krippenplätze sowie legale und illegale Geschäfte, und Befragungen über die medizinische Versorgung durchgeführt. »Die Arbeit, die wir hier machen, besteht darin, Bewusstsein zu schaffen. Das ist für niemanden hier sehr angenehm am Anfang, mit der eigenen Realität zu arbeiten, zu sehen, dass die Situation hier hässlich ist und dass sie aus diesem und jenem Grund hässlich ist«, erzählt Fatima. Als die Jugendlichen ein Lied mit Daten ihres Viertels machen sollen, wählen die meisten die hohe Geburtenrate als Thema. Es entsteht eine Diskussion: Viele junge Männer machen allein die Frauen verantwortlich.
Die gesammelten Daten gehen in ein Informationssystem über Kinder und Jugendliche in jedem Viertel ein. Es ermöglicht jedem Einwohner São Paulos, der die Postleitzahl seines Viertels auf der Internetseite des Informationssystems ein­gibt, Einblick in Daten über Geburten, Arbeits- und Wohnsituation, aber auch über Morde an Jugendlichen in seinem Viertel zu nehmen. In einigen Vierteln erhebt das Jugendhaus selbst die Daten, in anderen werden Statistiken von anderen Institutionen eingeholt.
»Wir halten das von uns entwickelte Informationssystem für revolutionär. Denn es gibt zum Beispiel Zahlen darüber, dass fünf Prozent der Be­völkerung von São Paulo Analphabeten sind. Diese Zahl ist so generell, dass es unmöglich ist, auf dieser Grundlage irgendein konkretes Programm zu entwickeln, um die Analphabetismusrate zu senken. Wir arbeiten mit kleinen Stadtteilen, die wir ›Einheiten partizipativer Planung‹ nennen«, erklärt Inae, die Tochter von Silva, die für das Institut arbeitet. »Eine Einheit partizipativer Planung hat zum Beispiel die Größe eines Gebiets zwischen dem Friedhof, dem Supermarkt und einem Wohnblock. Die Jugendlichen können sagen: ›Ich kenne dieses Gebiet, weil ich hier wohne.‹ Sie haben vor kurzem 200 Kinder registriert, die keinen Krippenplatz haben. Sie wissen jetzt, was das bedeutet.« Für die Datensammlung bekommen die Jugendlichen ein monatliches Stipen­dium von 40 Euro. Sie sollen lernen, ihre Rechte vom Staat einklagen zu können.
Einige der Daten, etwa über illegale und legale Geschäfte, werden in das interne Kartierungssystem des Viertels eingetragen. Die mit dem Jugend­haus kooperierende NGO Institut Lidas plant, mit der Stadtverwaltung von São Paulo die Legalisierung aller nicht offiziell registrierten Geschäfte auszuhandeln. Wenn für ein Viertel ein »Direktionsplan« erstellt wird, haben die Bewohner Mitspracherechte, die einklagbar sind.

Silva spricht nicht gerne von Nichtregierungsorganisationen; die hier agierenden haben keinen guten Ruf. »Die soziale Bewegung hier hat keinen Fokus. Ich kenne alle NGO, die hier tätig sind. Einige werden von deutschen Institutionen finan­ziert, ich will keine Namen nennen. Die Arbeit, die sie hier machen, dient dazu, Armut zu reproduzieren. Ihre Programme haben nichts mit der Realität der Bewohner zu tun. Einige geben Kunstkurse, andere geben Geigenunterricht. Bei uns gibt es auch 30 Jugendliche, die Geigenunterricht nehmen. Aber allein das reicht eben nicht«, meint Fatima.
1989 gründete Silva das Institut Lidas. In den sechziger Jahren beteiligte er sich in São Paulo am Kampf der Gewerkschaften gegen die Militärdiktatur und lebte im Untergrund. Danach erstellte er zunächst Gesundheitsprogramme für Arbeiter der Schwerindustrie in São Paulo. Als Silva 1993 anfing, mit Geokartierungsprogrammen zu arbeiten, war diese Methode noch sehr neu in Brasilien und selbst große Firmen begannen gerade erst, sie zu benutzen. Wie Silva sind die meisten Mitarbeiter des Instituts Autodidakten. Mit Aufträgen für das Institut, wie zum Beispiel vom gewerkschaftlichen Statistik­institut für sozioökonomische Studien, können sich die Mitarbeiter finanziell über Wasser halten.
Das Jugendprogramm läuft jedoch 2009 aus. Bis dahin sollen sich die Jugendlichen bereits in einer Informationskooperative organisiert haben. Geplant ist auch eine kommerzielle Verwertung der Daten, die etwa für die Ansiendlung von Supermärkten interessant sein könnten. »Die Informationskooperative ermöglicht jedem Mitglied, von zu Hause aus an Kartierungsprogrammen des eigenen Viertels zu arbeiten sowie Marktforschung zu betreiben und von dem Verkauf dieser Informationen zu leben. Jeder Jugend­liche müsste nur sechs Stunden pro Woche arbeiten und hätte daher genug Zeit für Familie und Freizeit«, sagt Silva.
Tiago und Bruno gehören zu den zehn Jugendlichen, die geblieben und daran interessiert sind, weiter an der Verbesserung der Situation in ihrem Viertel zu arbeiten. »Ich habe mich dem Projekt nicht so sehr wegen dem Kurs angeschlos­sen, sondern um mich anzunähern und ein Projekt zu schaffen, das mit der Gemeinde hier zusammenarbeitet«, erzählt Tiago. »Diese Daten, die wir aufnehmen, dienen der politischen Intervention. Ich finde es interessant zu beobachten, wie sich immer mehr Jugendliche das Konzept an­eignen. Denn die Bevölkerung hier kennt ihr eigenes Territorium nicht. Sie muss anfangen, Verbesserungen für das Viertel einzufordern und die Probleme zu bekämpfen«, meint Bruno.

Fraglich ist, ob die Informationskooperative zustande kommt. Bruno und Tiago würden sich gern ihr Studium auf diese Weise finanzieren: »Die Idee ist, in Form einer Kooperative zu arbeiten und sich Ausbildung oder Studium damit zu finanzieren. Und wenn jeder nur sechs Stunden pro Woche arbeiten müsste, würde das ja gehen. Hier zu arbeiten, bedeutet für mich auf jeden Fall eine berufliche Weiterqualifizierung. Aber das heißt nicht, dass ich auch in Zukunft mit so was arbeiten will. Jedenfalls kann ich jetzt, wenn es ein Problem in meiner Straße gibt, zur Stadtverwaltung gehen und sagen: ›Das und das passiert in meinem Viertel und ich habe die und die Rechte.‹ Ich kann also meine Rechte einfordern. Deswegen sind wir ja hier«, meint Bruno.