Die russische Justiz und rechtsextreme Morde

Moskau immer mörderischer

Mindestens 58 Menschen haben die russischen Neonazis in diesem Jahr ermordet. Die Polizei und Gerichte gehen mittlerweile zwar häufiger gegen Rechtsextreme vor. Doch die Behörden sehen auch in Antifaschisten eine Gefahr für die Ordnung.

Die Toten tauchen in Russland nur noch in Kurzmeldungen auf. Nachdem das öffentliche Interesse infolge einer regelrechten Welle rassistischer Angriffe und Morde in den Wintermonaten gestiegen war, ist der Sensationswert solcher Taten nun sichtlich gesunken. Tatsache ist, dass im Mai im Vergleich zu den Vormonaten die Anzahl der gemeldeten Attacken abgenommen hat.
Ende Mai sorgte ein Bericht von Alexander Brod, dem Direktor des Moskauer Büros für Menschenrechte, dennoch für Aufsehen. Nach seinen Angaben waren mit über 70 Morden seit Jahresbeginn bereits mehr Opfer rassistischer Gewalt zu verzeichnen als im gesamten vergangenen Jahr. Allerdings musste Brod seine Aussage revidieren. In der Statistik hatte er einige Morde angeführt, die im kriminellen Milieu ohne explizit rassistische Motive verübt worden waren. Das Moskauer Zentrum »Sova«, das Vorfälle mit rechtsextremem Hintergrund dokumentiert und analysiert, spricht von »nur« 58 Ermordeten, davon allein 35 in Moskau.

Die rassistischen Gewalttaten weisen »Sova« zufolge verschiedene Merkmale auf: Die Angriffe richten sich in nicht geschlossenen Räumen gegen eindeutig unterlegene Opfer. Die Täter versuchen nicht, diese zu bestehlen oder zu berauben. Die Attacken werden von Gruppen von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen verübt, die meist rechtsextreme Skinheads sind und als Tatwaffen in der Regel Messer benutzen. Aber wie die Angaben im Einzelnen zustande kommen, spielt eine untergeordnete Rolle. Wichtiger ist die allgemeine Tendenz: In den vergangenen Jahren hat die Zahl der rassistischen Angriffe, ob mit oder ohne Todes­opfer, erheblich zugenommen.
Diese nicht von der Hand zu weisende Entwicklung erhöht den Druck auf die Gerichte und Polizeiorgane, endlich zu handeln. Auch wenn in Russ­land keinesfalls von einem entschlossenen Kampf gegen die Gewalt der Rechtsextremen gesprochen werden kann, so bleibt der Staat zumindest auf dem Gebiet der Strafverfolgung nicht völlig untätig. In den ersten Monaten dieses Jahres wurden 40 Personen aus der Moskauer Naziszene festgenommen. Im Mai sprachen russische Gerichte mehrere Urteile gegen rechtsextreme Täter aus.
So erhielten vier von acht Angeklagten in einem Terrorismusprozess Mitte des Monats lebenslange Freiheitsstrafen. Das Moskauer Stadtgericht befand sie des Mordes an 14 Personen für schuldig. Sie hatten im August 2006 ein Bombenattentat auf dem Tscherkizov-Markt verübt. Gegen die anderen Angeklagten wurden Urteile zwischen zwei und 20 Jahren Haft ausgesprochen. In den ersten Vernehmungen gaben die Täter die Mitgliedschaft in einer nationalistischen Organisation zu und begründeten ihr Vorgehen mit dem Hass auf Asiaten.
Ebenfalls im Mai verhängte ein Gericht im Moskauer Umland wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung Haftstrafen zwischen drei und sechseinhalb Jahren gegen fünf Angeklagte, drei weitere kamen mit Urteilen auf Bewährung davon. Die Rechtsextremen hatten in einem Moskauer Vorortzug einen kirgisischen Staatsbürger angegriffen und ihm schwere Verletzungen zugefügt.
Nicht ausgenommen von der Strafverfolgung sind zudem weit über die Szene hinaus bekannte Neonazis. Mit einer einjährigen Bewährungsstrafe endete das Verfahren gegen den Gründer und langjährigen Anführer der »Nationalsozialistischen Gesellschaft« (NSO), Dmitrij Rumjantsew, wegen einer Rede auf einer Neonazikundgebung im südrussischen Woronezh. Einer der umtriebigs­ten Altnazis, Jurij Beljaew, der auch Vorsitzender der »Partei der Freiheit« ist, wurde Anfang Mai verhaftet. Er hatte sich in den Untergrund abgesetzt, während er noch wegen Volksverhetzung unter Bewährung stand. Die Ermittler leiteten ein neues Verfahren gegen ihn ein.

Die Echtheit eines zunächst als Fälschung eingestuften Hinrichtungsvideos wurde unterdessen bestätigt. Auf ihm ist zu sehen, wie Neonazis zwei Männer ermorden. Ein Toter stammte aus der russischen Nordkaukasusrepublik Dagestan, der andere aus Tadschikistan. Die mutmaßlichen Täter sollen mittlerweile festgenommen worden sein, was offiziell aber noch nicht bestätigt wurde. Es soll sich um aktive NSO-Mitglieder handeln, die aus dem unweit von Moskau gelegenen Obninsk stammen. Bei einem Täter handelt es sich wahrscheinlich um den Sohn eines hohen Beamten aus dem Sicherheitsapparat der Region Kaluga. Dieser Umstand wiederum könnte eine Erklärung dafür bieten, warum die zuständigen Behörden die Ermittlungen immer wieder verschleppt und verdunkelt haben.
Ob eine härtere Strafverfolgung bei rechts­ex­tre­men Delikten eine abschreckende Wirkung erzeugt, bleibt abzuwarten. »Schauprozesse wie der gegen die Täter vom Tscherkizov-Markt machen auf junge Nazis wenig Eindruck«, sagt Galina Kozhewnikowa vom Zentrum »Sova« im Gespräch mit der Jungle World. »Gerichtsurteile mit Haftstrafen in wesentlich durchschnittlicheren Strafverfahren üben dagegen viel mehr Einfluss auf die Szene aus.«

Im Innenministerium sucht man derweil nach neuen Feindbildern. Das zunehmende Auftreten junger Antifaschisten und eine öffentlichkeitswirksame Kampagne von Moskauer Anarchisten im vergangenen April gegen die alltägliche Brutalität der russischen Miliz veranlassten die Ordnungshüter zu einer Neubewertung der tatsächlichen oder vermeintlichen extremistischen Bedrohung.
Von nun an zählen auch Anarchisten in Russland zu den gefährlichsten Elementen im Land. Generalmajor Sergej Girko, der Leiter des wissenschaftlichen Forschungsinstituts der Polizei, das auch dem Innenministerium untersteht, wies auf einer Pressekonferenz auf das »asoziale« und »gemeingefährliche« Verhalten der Anarchisten hin. Ihre »Verbrechen« nähmen besorgniserregende Ausmaße an, sie untergrüben Russlands Autorität im Ausland. Antifaschisten berichten bereits davon, dass sie sich einem wachsenden Druck seitens der Polizeiorgane ausgesetzt sähen. Im Kampf gegen die ausgemachte neue Gefahr braucht man Erfolge. Milizionäre verschaffen sie sich nicht selten, indem sie Unbeteiligte zu Geständnissen nötigen.