Jens Lehmann und die EM

Torhüter sind allgemein überbewertet

Jens Lehmann patzt nicht mehr. Er bekommt einfach keine Gelegenheit dazu. Deshalb sollte er bei der EM spielen.

Der Spielbericht zur spanischen Eliteliga auf weltfussball.de ist deutlich: »Um Gottes Willen Timo Hildebrand!«, heißt es. »Da hält er so stark bisher, und dann das: Eine Flanke kommt von rechts rein, zwei Weiße und zwei Rote bleiben stehen. Hildebrand geht hoch, springt in den eigenen Mann rein, lässt das Leder durch die Lappen gleiten und Agüero schiebt lässig ein. Das Ding geht auf die Kappe des deutschen Nationalkeepers!« Es war das einzige Tor und entschied die Begegnung zwischen Atlético Madrid und Hildebrands FC Valencia zugunsten der Heimelf.
Solche Nachrichten sind es, die Joachim Löw in den Monaten vor der Fußball-Europameisterschaft beunruhigen. Doch sind Meldungen wie diese über Deutschlands Torwart Nummer Zwei immer noch besser als das, was von der britischen Insel über die Nummer Eins berichtet wird: Die englischen Medien schreiben über Jens Lehmann – nichts. Können sie auch nicht, denn er spielt nicht. Außer in Pokalbegegnungen, doch Lehmanns Club, der FC Arsenal, ist nach einem unrühmlichen 0:4 gegen Manchester United aus diesem Wettbewerb ausgeschieden.
In der Meisterschaft und in der Champions League zieht Arsenals Trainer Arsène Wenger Lehmanns Mannschaftsrivalen vor: Manuel Almunia hat zwar noch kein einziges Länderspiel für Spanien bestritten, zeigt aber gegenüber dem 52fachen deutschen Nationalspieler die konstantere Leistung. So bleibt es dabei: Lehmann trägt bei Arsenal zwar weiterhin die Nummer 1, Almunia aber ist derjenige, der spielt. Und Joachim Löw wird ein Torwartproblem angedichtet.
Solange Lehmann nur Gelegenheit hat, Fehler in Freundschaftsspielen seiner Nationalmannschaft zu machen, nutzt er sie auch. Zuletzt gegen Österreich. Da traf er bei seinen Abwehrversuchen praktisch alles: Den Fuß des ihn umkurvenden Stürmers Roland Linz, die Luft neben dessen Mannschaftskollegen Martin Harnik, der anschließend an die Latte köpfte, oder auch mal den Ball – den allerdings nur mit der Brust, als er einen Schuss von dort abprallen ließ, so die Süddeutsche Zeitung, »wie früher im Turnunterricht der Unsportlichste beim Völkerball«.
Doch eigentlich war alles halb so wild. Kein einziges Mal während des gesamten Spiels musste der verhinderte Völkerballer Lehmann hinter sich greifen. Und nicht nur das: Seit 621 Minuten ist er in Spielen der deutschen Nationalmannschaft ohne Gegentor. Das ist Rekord, und diese fast sieben Begegnungen fanden keineswegs gegen Mannschaften statt, deren Stürmer etwa ausgewiesene Nichtskönner gewesen wären.
Was Lehmann fehlt – neben einem Schuss Selbstironie, die seine Erklärungsversuche nach Missgriffen erträglicher gestalten würde –, ist Berufspraxis. Die kann er in England in dieser Saison nicht mehr erwerben – es sei denn, Almunia würde, wie schon mancher Torhüter vor ihm, der rabiaten Spielweise in Englands Premier League zum Opfer fallen. Doch auf eine Verletzung des Kollegen hofft vermutlich selbst der ehrgeizige deutsche Keeper nicht.
Zurück zu Joachim Löw: Soll er auf einen Torwart zurückgreifen, dessen Hintern auf der Ersatzbank im Emirates Stadion von Arsenal mehr Eindrücke hinterlassen hat als jeder Holzkäfer? Oder doch lieber auf Timo Hildebrand? Der hat – im Gegensatz zu Lehmann – im Nationaldress bisher ausgesprochen unglücklich agiert und bereits mehrfach in Partien der deutschen Mannschaft gepatzt. Andererseits: Beim 3:2 seines Clubs FC Valencia bei Real Madrid war er Weltklasse.
Als Alternativen stünden zwei junge Torhüter bereit. Schalkes Manuel Neuer spielt immerhin in der Champions League und dort sogar meistens zu Null. Einen unglücklichen Auftritt hatte er gegen Chelsea, als er gleich in der dritten Minute einen Ball unter seinem Körper hindurchgleiten ließ. Gegen den FC Porto dagegen sicherte er ganz allein das Weiterkommen. Sehr zuverlässig und fehlerlos hielt diese Saison auch René Adler, aber die Bühne des reak­tions­schnel­len Schlussmanns von Bayer Leverkusen ist neben der Bundesliga nur der Uefa-Cup. Wie Neuer hat auch Adler noch kein einziges Länderspiel aufzuweisen; die große Zeit der beiden dürfte erst mit den Qualifikationsspielen zur Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika kommen.
So wird Joachim Löw bei der EM vermutlich auf Lehmann und dessen Erfahrung zählen. Seine Gegentorstatistik in der Nationalmannschaft und auch das Glück, das er in der Vergangenheit immer wieder hatte, sprechen für den 38jährigen. Ein Blick auf die Geschichte großer Turniere gibt dem Bundestrainer Recht: Jedes Mal seit 1972, wenn eine deutsche Mannschaft erfolgreich war, spielten die Torhüter keine entscheidende Rolle.
Sepp Maier musste weder beim EM-Titelgewinn in Belgien noch bei der gewonnenen WM im eigenen Land groß eingreifen. Bei der Europameisterschaft 1980 in Italien stand Harald Schumacher weitgehend beschäftigungslos im Tor. Letzter Mann beim Gewinn der WM 1990 im selben Land war Bodo Illgner. Wobei man zugeben muss: Selbst wenn Illgners Frau das Tor im Halbfinale von Turin gehütet hätte, wären die Engländer im Elfmeterschießen gescheitert: »Den Schuss von Pearce«, schrieb damals der Tagesspiegel über Illgner, »hat er im Grunde nur deshalb gehalten, weil er sein Knie nicht rechtzeitig wegbekam.« Und beim entscheidenden Elfer traf Chris Waddle nicht mal das Tor.
Doch keine Regel ohne Ausnahme: Bei der letzten von den Deutschen gewonnenen Europameisterschaft, 1996 in England, hatte Torhüter Andreas Köpke einen großen Anteil am Titelgewinn. Obwohl der Trainer der Gastgeber, die der deutschen Elf in einem dramatischen Halbfinale unterlagen, auch dies in Abrede stellte: Als Gareth Southgate nach seinem von Köpke im Elfmeterschießen gehaltenen Versuch die Absicht äußerte, sich in der Kabine zu erschießen, riet ihm Terry Venables weise davon ab: »Du würdest doch wieder nicht treffen!«
Zwischen Pearces Fehlschuss und Southgates Euro-Fahrkarte liegt Lehmanns Ligadebüt. Am 3. August 1991 erreichte er mit Schalke ein torloses Remis gegen den Hamburger SV. Damals war das für ihn noch ein Grund zu meckern. Langweilig sei es gewesen. Doch bereits eine Woche später sehnte sich Lehmann nach diesem Gefühl zurück: Da verloren die Schalker 0:5 in Frankfurt, und beim Bällefangen im Waldstadion sah der Mann im Tor manchmal extrem dumm aus. Trotz manchem Missgriff fühlte sich der junge Lehmann zu Höherem berufen. Den Wunsch, möglichst bald in der Nationalelf zu spielen, ergänzte er später durch die Aussage: »Olympische Spiele sind neben einer Weltmeisterschaft das Größte.« Nun wird er wohl auch die EM für ziemlich groß halten.