Lokomotive des Systems

Der Klassenkampf ist im Zentrum der kapitalistischen Infrastruktur angekommen. Das zeigt die Auseinandersetzung zwischen der Gewerkschaft der Lokführer und der Bahn AG, wie auch immer sie ausgehen mag. von felix klopotek

Standesinteressen, partikularer Radikalismus, Profilierungsgehabe, Desinteresse an den Bedürfnissen der anderen Beschäftigten der Bahn – das sind die Vorwürfe, die Gewerkschaftsfunktionäre des DGB im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf der Lokführer erheben. Das Spiel wiederholt sich, voriges Jahr mussten streikende Ärzte sich Ähnliches anhören. Der Unterschied scheint zu sein, dass Linke, folglich auch linke Gewerkschaftsfunktionäre, den gegenwärtigen Streik explizit wohlwollend begleiten. Denn die Vorwürfe lassen sich auch als Vorzüge formulieren. Eine kleine, nicht im DGB organisierte Gewerkschaft zeigt, dass sich einiges bewegen lässt, wenn man zusammenhält, gegenüber dem Kapital entschlossen auftritt und sich nicht von Anfeindungen der unterschiedlichsten Interessengruppen einschüchtern lässt.

Zumindest wird die Arbeitswelt derzeit seltener ideologisch beschönigt, und die Gegenseite schreitet, für die Öffentlichkeit deutlich sichtbar, zu unappetitlichen Attacken. Mehdorn spricht davon, dass die Lokführer das Land »terrorisieren«. Seit 9/11 und dem anschließenden »Krieg gegen den Terror« dürften viele Leute hellhörig werden, wenn von »terrorisieren« die Rede ist. Umgangssprachlich lässt sich das Wort nicht mehr verwenden. Man darf spekulieren, ob Mehdorn mit seiner Wortwahl auf eine Kriminalisierung des Streiks hinauswollte oder sich einfach nur gedankenlos dumm ausgedrückt hat. Sicher ist, dass er auf öffentliche Empörung spekuliert; offen ist, ob er damit durchkommt.

Die Frage ist, ob dieser Arbeitskampf für einen weiteren Niedergang (nicht nur) des institutionalisierten Klassenkampfs steht oder ob er, im Gegenteil, eine Vorbildfunktion für zukünftige Auseinandersetzungen hat. Zur Klärung der Frage hilft es, die Auseinandersetzung in einen historischen Zusammenhang zu stellen.

Noch Ende des 19. Jahrhunderts galten Betriebe bereits ab fünf Beschäftigten als Produktionsstätten mittlerer Größe. Zu einem Zeitpunkt also, als die Industrialisierung in Deutschland schon recht fortgeschritten war, erinnerte die Mehrheit der Betriebe noch an Werkstätten und kleine Manufakturen. Es gab zwei bedeutende Ausnahmen, von denen nicht zuletzt das Fortkommen der Industrialisierung abhing: die Post und die Bahn.

Beide Unternehmen haben zwar privatwirtschaftliche Ursprünge, aber mit der Reichseinheit von 1871 setzte etwa die Verstaatlichung der Bahnunternehmen ein. Im Gegensatz zu den kleinen Betrieben hatten Post und Bahn bereits sehr früh jeweils eine große Anzahl Beschäftigter. Post und Bahn garantierten die verlässliche Zirkulation von Waren und Personen im Sog der industriellen Revolution. Sie standen für ein geregeltes Zusammenspiel von disparaten Produktionselementen, für Verlässlichkeit und Dauer. Post und Bahn verkörperten – von der Seite ihrer technischen Perfektion und ihres reibungslosen Ablaufes betrachtet – das positive Bild der Rationalisierung, mitten im Kapitalismus praktizierten sie dem Anschein nach ein Stück Gemeinwirtschaft. Kein Wunder, dass Sozialdemokraten dort den Sozialismus heranreifen sahen. Kein Wunder auch, dass sich dieses utopische Element gerade der Bahn mit ihren mächtigen und stolzen Maschinen in Alltagsbildern manifestierte – etwa, dass sich Wohlstand und Glück der Nation an der Pünktlichkeit der Züge ablesen ließ oder dass bis vor wenigen Jahrzehnten Millionen kleiner Jungs Lokführer werden wollten, wenn man sie fragte.

Der gegenwärtige Arbeitskampf findet im Herzen der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte Deutschlands statt. Heute sind Lokführer keine privilegierte Berufsgruppe mehr, kein Stand, dem Wohl und Wehe der Nation obliegen, sondern ein »Kostenfaktor« wie jeder andere. Sie sind nicht mehr der Kopf der Riesenmaschine »Deutsche Bahn«, sondern irgendein Glied, mit dem, so wie es dem Management gerade passt, umgesprungen wird. Dass Lokführer es als kränkend erleben, wenn sie nicht mehr in ihren alten Kantinen hocken können, sondern in Aufenthaltsräumen, die großspurig »DB Casino« heißen, mag man belächeln. Aber die Tatsache, dass Reklame-Neusprech in eine Welt Einzug hält, in der es eben nicht um Reklame, sondern um Zuverlässigkeit, Sicherheit und eine urkapitalistische Tradition geht, erleben diese Leute als Bedrohung. Zumal diese Reklamewelt mit geringeren Aufstiegschancen, stagnierenden und real sinkenden Löhnen und brutalen Schichtverlängerungen einhergeht.

Die Zeit hat kürzlich einen rührend wütenden Lokführer porträtiert und ein schön-schreckliches, auch recht defensives Bild für das »persönliche Aufbegehren Frank Arnolds« gefunden: »Die Schraube wurde in den vergangenen Jahren stetig angezogen. Jetzt will er etwas zurück.«

Die Erfolgsideologie der BRD bestand immer darin, dass ein Großteil der Bevölkerung zwar ein Auf und Ab erleben mochte, aber nie abstürzte. Die Abgehängten – das war eine absolute Minderheit. Der Reiz, den die Filme und Theaterstücke von Rainer Werner Fassbinder und Franz Xaver Kroetz vor 30 Jahren ausübten, hatte auch damit zu tun, dass man aus sicherem Abstand dem Fluchen und Spucken der Subproleten zugucken konnte. Die deutsche Debatte der vergangenen 15 Jahre über Globalisierung und »Reform­stau« hat diese Ideologie erneuert, allerdings negativ gewendet. Politiker kündigen mit neuen »Reformen« keinen sozialen Aufstieg an, sondern sprechen die Drohung aus, dass es bald viel mehr Leuten so gehen könnte wie den Abgehängten, wenn sie nicht mitmachen. Den meisten wird es schlechter gehen, aber nur dadurch bleibt das bestehende Interessengefüge der BRD erhalten. Es war diese verquere Logik, die der Sozialdemokratie noch im Jahr 2002 den Wahlsieg bescherte und sie 2005 nur knapp verlieren ließ.

Der über Jahre hinweg aufgestaute Frust der Lokführer zeigt, dass die kapitalistische Rationalisierung nicht vor den Betrieben halt macht, die diese Rationalisierung vorangetrieben haben und es immer noch tun. Die Erfolgsideologie untergräbt sich selbst. Mit der gegenwärtigen Auseinandersetzung ist der Klassenkampf da angekommen, wo er nach Meinung von Politikern und Unternehmern gar nicht stattfinden darf. Prekarisierung und die schier grenzenlose soziale Mobilität nach unten sind im Zentrum kapitalistischer Infrastruktur sichtbar geworden. Weil hier die ganze Rücksichtslosigkeit der herrschenden Wirtschaftsweise so deutlich geworden ist, kann der Arbeitskampf der Lokführer in dieser Hinsicht, ob erfolgreich oder nicht, ein starkes Vorbild sein.