Vollzugsziel Sicherheit

Innere Sicherheit ist Ländersache, Strafvollzug jetzt auch. Für manchen Staatsanwalt ist das ohnehin dasselbe. von philipp thiée

Wer einen Blick für große historische Epochen hat, der wird feststellen, dass sich im Umgang mit Kriminellen tatsächlich einiges geändert hat: Früher wurden die Strafprozesse im Geheimen geführt und die Bestrafung wurde öffentlich vollzogen, heute ist es umgekehrt. Im Prozess wird der Angeklagte unter den Augen der Öffentlichkeit abgeurteilt, um dann meist für ein paar Jahre in einer Justizvollzugsanstalt zu verschwinden. Nur selten dringt von dort einmal ein Bild nach draußen. Und wenn, wird es von den Medien verarbeitet und bald wieder vergessen. So wird es wohl auch mit den beiden Skandalen der vergangenen Wochen geschehen, die einem die Realität im deutschen Strafvollzug vor Au­gen geführt haben: einmal die Ermordung eines Jugendlichen in der JVA Siegburg durch seine drei Zellengenossen Mitte November und zum anderen der Sexualstraftäter Mario M., der eine Nacht auf dem Dach der JVA Dresden verbrachte.

Im Fall des Mario M. wurde die übliche Ge­schichte erzählt: über den kaltblütigen Triebtäter, der so mächtig ist, dass er sogar nach seiner Verhaftung der Justiz noch auf der Nase herumtanzen kann und so das Opfer noch einmal traumatisiert. Mit den vorhandenen Bildern hätte man genauso gut erzählen können: »Völlig verzweifelt klettert ein sexuell und emotional vollkommen Verwirrter auf ein Dach und weiß dann vor Hilflosigkeit auch nicht mehr weiter. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er niemandem mehr etwas antun kann.« Doch vor dem Bösen kann man sich erst dann richtig fürch­ten, wenn es Menschenunmögliches vermag. Gegen dieses unbezwingbare Böse hilft nur eines: »Sicherheit«.

Die Reaktionen auf den Fall in Siegburg lagen überraschenderweise etwas anders. Die Frage »Wie konnte das passieren?« wurde nicht nur den Tätern gestellt, sondern betraf auch die konkrete Organisation des Strafvollzuges. In diesem Fall hatten die Medien Bilder von einem jugendlichen Opfer und seiner weinenden Mut­ter. Dies hatte immerhin zur Folge, dass der Lei­ter der JVA Siegburg strafversetzt wurde. Er war in Justizkreisen schon lange als Anstaltsleiter bekannt, der im Stil der fünfziger Jahre verfuhr, also eher ein Fossil.

Seit der Einführung des Strafvollzugsgesetzes von 1977, das regional unterschiedliche Verordnungen zum Strafvollzug ersetzte, war zumindest auf dem Papier die Resozialisierung primäres Ziel des Vollzuges. Auch wenn man an dieser viel kritisieren konnte, bedeutete sie für die Lebensführung der Gefangenen eine deutliche qualitative Verbesserung. Fortan war es so, dass die Länder die organisatorische Ausgestaltung übernahmen, während der Bund die rechtliche Verantwortung hatte.

Aber auch dies sind Debatten aus dem vorigen Jahrhundert. Der nach Siegburg erfolgte Ruf nach organisatorischen Konsequenzen für einen hu­maneren Strafvollzug dürfte schnell wieder verhallen. Denn mit der im September in Kraft getretenen Föderalismusreform hat man sich in der Strafrechtspolitik schon für eine andere Richtung entschieden. Im Artikel 74 des Grundgesetzes wurde ein kleiner Zusatz – »und den Strafvollzug« – gestrichen, und so haben nun die Länder die alleinige Befugnis, den Ablauf des Strafvollzugs rechtlich zu regeln.

Quasi über Nacht wurde dieser Passus in den Entwurf dieser wohl umfassendsten Reform des Grundgesetzes eingefügt. Vor dem November 2004 gab es in der Fachliteratur nicht eine einzige Stimme, die dies auch nur im Entferntesten gefordert hätte. Im Gegenteil. In völlig ungewohnter Einigkeit hatten sich alle namhaften Verbände und Fachorganisationen gegen die Kompetenzübertragung ausgespro­chen. Auch die Kirchen, die Gewerkschaften, über 100 Lehrstuhl­inhaber für Strafrecht, Kommentatoren sowie 14 ehemalige Bundes- und Landesjustizminister von CDU, SPD, FDP und Grünen lehnten das Vorhaben ab.

Der Gesetzentwurf selbst entbehrte jeder Begründung zu diesem geplanten Punkt der Reform. Die Begründungen wurden in poli­tischen Erklärungen nachgeschoben: Es gehe um den »Wettbewerb der Ideen«, der zur Fortentwicklung eines effektiven Strafvollzugs führen soll. Wer ursprünglich auf diese eigentümliche Idee gekommen ist, weiß man allerdings nicht.

Interessanterweise gab es seit dem Deutschen Kaiserreich die entgegengesetzten Bemühungen, nämlich ein möglichst einheitliches Bundesgesetz für den Strafvollzug zu schaffen. Schon im Parlament des Norddeutschen Bundes von 1870 wurde festgestellt, es sei »vollständig klar, wie nötig ein Bundesgesetz über die gleichartige Vollziehung der Strafen ist (…), wenn die Strafen verhängt werden aufgrund eines einheitlichen Gesetzes.« Der Rechtsgelehrte Gustav Radbruch begründete dies so: »Die Gerechtigkeit bietet zunächst die Gestalt der ausgleichenden Gerechtigkeit dar, um die Strafe auf sie zu gründen. Wie der Ware der Preis, der Arbeit der Lohn, dem Schaden der Ersatz, so würde danach dem Verbrechen die Strafe entsprechen.«

Diese bürgerliche Rechtslogik setzt voraus, dass auf vergleichbare Verstöße auch vergleichbare und berechenbare Sanktionen folgen. Das heißt, in einem Bundesstaat darf es nicht vorkommen, dass drei Angeklagte, die ein Verbrechen begehen, aber in verschiedenen Bundesländern wohnen, nach der gleichen Verhandlung formell alle zu drei Jahren Haft verurteilt werden, dass diese drei Jahre Knast aber jeweils völlig anders aussehen. Genau dies wird nun zunehmend Realität werden.

Bereits vor der Föderalismusreform hatten die Länder recht große Spielräume. Es gibt verschiedene Zwecke, die mit dem Voll­zug der Strafe erreicht werden sollen: Siche­rung, Schuldausgleich oder eben sozialstaat­liche Resozialisierung. Was dagegen mit der Reform erreicht werden wird, ist letztlich die Eröffnung eines populistischen Politikfeldes für die Landeswahlkämpfe. Roland Koch gab dazu das Stichwort, als er 2003 mit der Ankündigung, er werde den härtesten Strafvollzug Deutschlands schaffen, als Ministerpräsident wie­dergewählt wurde.

Bei einer Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestags im Mai 2006 zeigte der Oberstaatsanwalt Clemens Lückemann als Sachverständiger, wo es lang gehen wird: »Das moderne Recht des Justizvollzuges ist seinem Wesen nach Sicherheitsrecht. Das Recht der inneren Sicherheit ist aber Domäne der Länder. (…) Die Befürchtung, eine Übertragung der Gesetzgebungskom­petenz auf die Länder werde im Strafvollzug einen Schäbigkeitswettbewerb auslösen, erweist sich beispielhaft mit Blick auf Bayern als haltlose Unterstel­lung. (…) Im Jahr 2004 hatte Bayern mit 68 Euro die geringsten Kosten für den Haftvollzug pro Tag und lag damit rund 32 Prozent unter dem Länderdurchschnitt. Gleichwohl bringt Bayern eine Vielzahl von gesetzlich nicht vorgeschriebenen Aufwendungen für die Resozialisierung von Gefangenen.«

Als erstes Land stellte Niedersachsen ein Justizvollzugsgesetz vor. Sicherheit und Resozialisierung sind demnach nun als Vollzugsziel gleichbedeutend. Die Justizministerin Elisabeth Heister-Neu­mann führte in der Tageszeitung Die Welt aus: »Natürlich müssen auch wir zu einem soliden Haushalt beitragen. Deshalb sparen wir am Weihnachtsgeld der Beamten. Und wir werden die JVA Bremervörde als Public-Private-Partner­ship betreiben. Der Bau und einige Ser­vicebereiche werden von Privaten über­nommen, die hoheitlichen Aufgaben bleiben beim Staat.«

Schüsse auf Flüchtende behält sich der Staat vor, die Verpflegung und ähnliche offenbar als Nebensächlichkeit eingestufte »Service«-Leistungen kann man ja irgendwelchen möglichst billigen Gammelfleischfabrikanten übertragen. Der »Wettbewerb der Ideen« ist eröffnet.