… es fehlen die Gefangenen

Linke und Knäste von ivo bozic
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Es war eine gewaltige Detonation, die am 27. März 1993 das hessische Städtchen Weiterstadt erschütterte. Danach war der Gefängnisneubau eine Ruine. »Wir haben mit dem Kommando Katha­rina Hammerschmidt den Knast in Weiterstadt gesprengt und damit auf Jahre verhindert, dass dort Menschen eingesperrt werden«, erklärte die RAF in ihrem Bekennerschreiben. Und weiter: »Der Weiterstädter Knast steht exemplarisch dafür, wie der Staat mit den aufbrechenden und sich zuspitzenden Widersprüchen umgeht: gegen immer mehr Menschen Knast, Knast, Knast.« Und: »Für eine Gesellschaft ohne Knäste!«

Es war kein großes Wahlkampfthema für die Linkspartei in Berlin, aber man kommt als Regierungspartei nun mal nicht drum herum. Im Wahlprogramm 2006 hieß es schlicht: »Für eine erfolgreiche Resozialisierung von Straftätern muss die Belegungssituation insgesamt verbessert werden. Mit dem Neubau einer Justizvollzugsanstalt in Großbeeren könnten die Haft- und Resozialisierungsbedingungen dauerhaft und nachhaltig verbessert werden.«

Linke, die Gefängnisse sprengen, und Linke, die Gefängnisse bauen lassen – zu Verwirrungen führt das nicht in der linken Szene. Das Thema Knäste, jahrzehntelang ein zentrales Anliegen der Antiautoritären, ist – von Abschiebeknästen abgesehen – weitgehend aus dem Blickfeld geraten. Der Verdacht liegt nahe, dass sich Linke vor allem dann für das Strafsystem interessieren, wenn sie selbst davon betroffen sind – oder wenn sich die Häftlinge in Guantánamo befinden. »Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen«, diese alte Demo-Parole war eben nur auf die »eigenen Gefangenen« gemünzt, die man nun kaum mehr auszumachen weiß, sei es, weil linke Gefangene tatsächlich »fehlen«, sei es, weil sie kaum mehr jemand als die »eigenen« definiert. Bei den Nazis ist das anders. Eine rührige »Hilfsorganisation« kümmert sich um die »nationalen Gefangenen«. Doch Lobbyarbeit für die eigenen Genossen oder Kameraden ist etwas anderes, als sich mit dem Sinn und Unsinn des Strafsystems auseinanderzusetzen.

Seitdem mehr Rechtsextremisten als linke Aktivisten in den Knästen sitzen, scheint die Linke gar eine gewisse Sympathie für das Wegsperren gewonnen zu haben. Tatsächlich kann niemand bei Verstand heute fordern, einfach alle Gefängnistüren aufzumachen, und ein plau­sibles, halbwegs realistisches Szenario für eine »Gesellschaft ohne Knäste« liegt nicht vor.

Dennoch kann es nicht sein, dass Linke angesichts der realen Notwendigkeit, die unhaltbaren Zustände in den Gefängnissen zu beenden, auf den Ausbau des Gefängniswesens setzen. Utopien sind als Alternative jedoch zu wenig, denn die derzeit Inhaftierten können nicht auf eine Gesellschaft warten, in der Knäste überflüssig sind. Und das nächtliche Sprengen von Gefängnisneubauten? In Weiterstadt steht mittlerweile ein enormes Vorzeigegefängnis.

Es sollten vor allem offensiv Alternativen zum Wegsperren vertreten werden. Doch dafür müsste man das Thema erst einmal wieder auf die Agenda setzen. Die Linken jedoch sammeln derweil lieber schon mal Geld, um sich nach dem G8-Gipfel im Sommer 2007 um die dann end­lich wieder vermehrt vorhandenen »eige­nen Gefangenen« der Gipfelproteste kümmern zu können.