Niemand hört die Hymnen

Das nordkoreanische Regime will in den Verhandlungen über sein Atomwaffenprogramm Zugeständnisse der USA erzwingen. von jörn schulz

Wenn eine interkontinentale Atomrakete sich wenige Minuten nach dem Start von ihrer ersten Stufe trennt, befindet sie sich bereits in der eisigen Kälte des Weltraums. Bald darauf erhitzt sie sich beim Wiedereintritt in die Atmosphäre auf mehr als 1 000 Grad. Vor diesen Temperaturschwankungen muss der kostbare Sprengkopf geschützt werden, und schon die geringfügigste Kursabweichung führt dazu, dass er über der falschen Stadt oder, peinlicher noch, über dem falschen Land explodiert.

Ist Nordkorea, das nicht gerade als Zentrum der Hochtechnologie gilt, in der Lage, diese Herausforderungen zu meistern? Bewiesen hat das nordkoreanische Militär im Jahr 1998, dass es eine Rakete über Japan hinwegschießen kann. Ob es den nordkoreanischen Technikern gelungen ist, die Reichweite zu erhöhen, ist unter Militärexperten umstritten. Manche glauben sogar, dass die Behauptung des »geliebten Führers« Kim Jong-il, Nordkorea habe »Nuklearwaffen zur Selbstverteidigung hergestellt«, nur ein Bluff ist.

Es genügte jedoch, dass Kim Jong-il eine Rakete, die ihrer Größe nach für einen Interkontinentalflug geeignet sein könnte, gut sichtbar für die US-Satellitenaufklärung betanken ließ. Die Regierungen der USA und Japans protestierten umgehend, denn Nordkorea hatte zugesagt, keine Raketentests mehr durchzuführen. Wahrscheinlich wird Kim Jong-il sich dieses Mal noch damit zufrieden geben, sein Anliegen in Erinnerung gebracht zu haben. Möglicherweise wird das Regime aber auch, wie bereits im Jahr 1998, den Raketentest als Satellitenstart bezeichnen. Der »Leuchtende Leitstern« hatte damals nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur KCNA »revolutionäre Hymnen« aus dem Weltraum gesendet, doch niemand anders vermochte die Hymnen zu hören und den Satelliten zu entdecken.

Eigentlich sind die Verhandlungen mit Nordkorea weiter fortgeschritten als die mit dem Iran. Kim Jong-il ist zwar ein verschrobener Diktator, doch das Atomwaffenprogramm dient nicht aggressiven außenpolitischen Zielen, sondern dem Überleben seines Regimes. Er hat bereits zugesagt, auf jegliche Atomrüstung zu verzichten, wenn er dafür angemessen entschädigt wird. Der Preis und die Modalitäten der Abrüstungskontrolle sind jedoch umstritten. Während George W. Bush dem Iran Zugeständnisse gemacht hat, schleppen sich die Verhandlungen über das nordkoreanische Atomwaffenprogramm seit sieben Monaten ergebnislos dahin. Zudem setzt die US-Regierung das Regime durch Ermittlungen gegen dessen Tarnfirmen im Ausland ökonomisch unter Druck.

Das kann Kim Jong-il sich schon aus innenpolitischen Gründen nicht bieten lassen. Er hat verfügt, dass »die Armee vor die Arbeiterklasse gestellt« werden müsse, da sie »Säule und wichtigster Akteur der Revolution« sei. Tatsächlich sind die Generäle die wichtigste Säule seiner Herrschaft, und sie scheinen auf weitere Aufrüstung zu drängen. Kim Jong-ils militaristische Politik trug auch dazu bei, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung unterernährt ist. Bei vielen dürfte das die Liebe zu ihrem Führer gemindert haben, die Zahl der politischen Gefangenen wird auf mehr als 150 000 geschätzt. Kim Jong-il benötigt einen Erfolg, entweder eine Demonstration nationaler Stärke oder einen Deal, der die Versorgungslage spürbar verbessert und eine Modernisierung der Wirtschaft einleitet.

Den will ihm die US-Regierung offenbar nicht anbieten, andererseits gibt es keine Anzeichen dafür, dass Bush den regime change erzwingen will. Jon B. Wolfsthal vom Center for Strategic and International Studies in Washington vermutet, dass hinter der hinhaltenden Verhandlungstaktik kein Kalkül steckt: »Die Wahrheit ist, dass die Vereinigten Staaten keine Strategie für die Beendigung des nordkoreanischen Atomprogramms haben.«