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Erneut kam es in einer Vorstadt von Paris zu einem Jugendaufstand. Rechte und ­sozialdemokratische Politiker fordern weitere repressive Gesetze. von bernhard schmid, paris

Ungefähr 100 junge Leute warfen Gegenstän­de an mein Haus und riefen ›Bürgermeister, Hurensohn‹ «, behauptet Xavier Lemoine, der Bürgermeister der knapp zehn Kilometer nordöstlich von Paris gelegenen Trabantenstadt Montfermeil. Eine möglicherweise etwas dramatisierte Darstellung, denn Lemoine sagte der Tageszeitung Le Monde auch: »Die Zusammenstöße fanden 50 Meter von meinem Wohnsitz entfernt statt.« Aus dieser Distanz kann sein Haus schwerlich von Wurfgeschossen getroffen worden sein. Er wohnt in einem besseren Viertel mit Reihenhäusern und Villen, das aber unmittelbar an die Cité des Bosquets grenzt, eines der am meisten vernachlässigten und am stärksten heruntergekommenen Plattenbauviertel im Großraum Paris.

Am 29. April war das Domizil des Bürgermeisters bereits einmal angegriffen worden. Niemand hält es für Zufall, dass gerade Lemoine zum Ziel wurde. Dabei gibt es freilich mehrere Versionen der Ereignisse. Er selbst behauptet, angegriffen worden zu sein, weil er am Vortag mit seiner Zeugenaussage die Verhaftung eines jungen Straftäters ermöglicht habe. Die örtliche Polizei dagegen teilte der Tageszeitung Libération mit, dass Überwachungs­kameras die Identifizierung des Täters ermöglicht hätten.

Andere Kommentatoren sehen einen direkten Zusammenhang mit der äußerst repressiven und provokativen Politik des Stadtoberhaupts. Die Polizeigewerkschaft Unsa-Police erklärte öffentlich: »Der Bürgermeister von Montfermeil hat die Früch­te der unangemessenen Entscheidungen geerntet, die er fällte.« Ähnlich argumentierte der Vorsitzende der französischen Sozialdemokraten, François Hollande. Lemoine habe »einen Kontext der Gewalt geschaffen«, eine Anspielung auf dessen Anfang April beschlossenes Verbot für Jugendliche, sich mit mehr als drei Personen im Stadtzentrum zu versammeln.

Es kam zu Konflikten zwischen der Kommunalpolizei und Jugendlichen, die nur zu mehreren von der Schule nach Hause gehen oder in der Mittagspause eine Pizza essen wollten. Ende Mai hob das Verwaltungsgericht das Versammlungsverbot allerdings wieder auf.

Xavier Lemoine ist Mitglied der konservativen Regierungspartei UMP. Doch bevor er im Jahr 2002 das Amt des Bürgermeisters übernahm, gehörte er dem Mouvement pour la France (MPF) an, einer rechtskonservativen Kleinpartei. Dort amtierte er als Sekretär seines Amtsvorgängers im Rathaus, Pierre Bernard, der Bezirksfunktionär des MPF war. Dieser musste sein Amt als Stadtoberhaupt aufgeben, nachdem er zum dritten Mal wegen rassistischer Diskriminierung verurteilt worden war. Über ein Jahrzehnt hatte er sich geweigert, ausländische Kin­der in Schulen »seiner« Stadt registrieren zu lassen.

Ausgelöst wurden die Proteste am Montag der vorigen Woche durch die Hausdurchsuchung bei einem Minderjährigen, der eines Einbruchsversuchs beschuldigt wurde. Ein Augenzeuge sagte der Libération: »Ein Polizist ist gekommen, hat ihm vor allen Leuten die Hose heruntergezogen, dann ist sein Bruder gekommen und hat ihnen gesagt: ›Warum zieht ihr ihm die Hose herunter, kommt lieber und zieht sie mir herunter‹. Und dann ist es abgegangen, sie haben den Flashball (ein Gewehr, mit dem Gummi­geschosse abgefeuert werden) hervorgezogen, ein anderer hat eine Tränengas-Spraydose herausgeholt, die Mutter stand daneben, und sie haben sie mit dem Gas angegriffen.«

Daraufhin kam es in der Nacht zum Dienstag zu heftigen Unruhen, die sich auf mehrere Viertel Mont­fermeils übertrugen und sich auch in der Nachbarstadt Clichy-sous-Bois ausbreiteten. Dort waren Ende Oktober die beiden Jugendlichen Boune und Zyad auf der Flucht vor einer Polizeikontrolle gestorben, was der Anlass für landesweite Aufstände im November war. Der inzwischen 18jährige Mühit­tin Altun hatte sich zusammen mit den beiden in einem Transformatorenhäuschen versteckt und mit schweren Verbrennungen überlebt.

Am Dienstag der vergangenen Woche wurde er festgenommen, unter dem Vorwurf, er habe Steine auf Polizisten geworfen. Das bestritten er selbst und Augenzeugen gegenüber der Presse. Samir Mihi von der Vereinigung AC le feu (Schluss mit dem Feuer), die in Banlieues zu deeskalieren versucht, meint, die Polizei habe, »weil sie zahlenmäßige Erfolge vorweisen muss«, wie im November »alle die Jugendlichen verhaftet, die sich am falschen Ort befunden haben, ohne zu schauen, wer wirklich etwas gemacht hat«.

Mühittins Anwalt, Jean-Pierre Mignard, vermutet dagegen, dass die Festnahme einen politischen Hintergrund hat: »Der Staatsanwalt hat dies explizit angeordnet, um die Zeugenaussage Mühittins zu entwerten und unglaubwürdig zu machen.« Just am folgenden Vormittag sollte die Nachstellung des Hergangs, der zum Tod der beiden Jugend­lichen geführt hatte, durch die Justiz stattfinden, doch fiel sie wegen der Festnahme Mühittins aus. Die Aussicht darauf, die Szenen nachgestellt zu sehen und nochmals zu erleben, hatte nach Ansicht vieler Beobachter die Jugendlichen von Clichy-sous-Bois in den Tagen davor in Unruhe versetzt.

Das politische Establishment nahm die erneuten Unruhen, die anderthalb Nächte andauerten, zum Anlass für Profilierungsversuche. Innenminister Nicolas Sarkozy ließ es sich nicht nehmen, zum Kommissariat im benachbarten Gargan zu eilen, wo er die Polizisten für ihre Arbeit lobte und just jene repressiven Maßnahmen propagierte, mit denen er in der Vorwoche im Kabinett nicht durchgedrungen war. Er fordert unter anderem eine vollständige Abschaffung des Jugendstrafrechts für Delinquenten, die 16 Jahre oder älter sind.

Seine voraussichtliche Gegenkandidatin bei der Präsidentschaftswahl im April 2007, Ségolène Royal, versuchte bei einer Ansprache in der Pariser Trabantenstadt Bondy, Sarkozy sogar noch zu übertrumpfen. Er sei gescheitert, sagte sie, und müsse »noch härter durchgreifen«. Die Rechte fordert die Sperrung von Sozialleistungen für die Familien jugendlicher Straftäter, die für Schulschwänzer jüngst gesetzlich festgeschrieben wurde. Die Sozialdemokratin Royal will in solchen Familien einen »Vormund« einsetzen, der über die Geldzuweisung entscheidet. Zudem fordert sie »Erziehungssysteme mit militärischem Charakter«.

Die Abschaffung der Wehrpflicht durch Präsident Chirac war Royal zufolge »ein Fehler, darum muss man neue Formen des Militärdiensts erfinden«. Prompt protestierte ein Offizier, der meinte, der Beitritt zur Armee werde dadurch zu Unrecht »als Strafe dargestellt«. Der konservative Abgeordnete George Fenech möchte daher lieber boot camps wie in den USA einführen, von Zivilisten geführte Straflager mit militärischen Drillmethoden. Dies wurde von einigen Linken kritisiert. Sogar der sozial­demokratische Parteivorsitzende François Hollande distanzierte sich. Da er mit Ségolène Royal verheiratet ist, deutet das auf einen echten Ehekrach hin.