Pilatus oder Judas

Antisemitismusvorwurf gegen Chávez von wolf-dieter vogel

Meinte er die Römer, wie manche seiner Unterstützer sagen? Oder sprach Hugo Chávez von den Juden, als er in einer Weihnachtsansprache erklärte: »Die Welt hat für jeden genug, aber Minderheiten – die Nachfahren derer, die Jesus gekreuzigt haben«, hätten sich die »Reichtümer der Welt angeeignet«? Für das Simon-Wiesenthal-Zentrum steht außer Frage, dass der venezolanische Präsident damit »zwei zentrale Argumente des Antisemitismus« benutzt hat: die Behauptung, dass die Juden Jesus ermordet hätten, sowie die Assoziation der jüdischen Bevölkerung mit Reichtum.

Auf eine Antwort des Staatschefs warten die jüdischen Menschenrechtler seither vergeblich. Doch die Leichtfertigkeit von Chávez’ Äußerungen spricht für sich. Warum sollte eine Führungsfigur der lateinamerikanischen Linken, die sich obendrein auf den katholischen Glauben beruft, bei diesem Thema Vorsicht walten lassen? In den Hochburgen des Katholizismus werden bis heute mit Begeisterung an Ostern Judas-Puppen verbrannt, und die Gleichsetzung der Shoah mit dem Vorgehen der israelischen Regierung gegen Paläs­tinenser gehört in den meisten linksradikalen Kreisen zum Allgemeingut.

Chávez hat sich bislang nicht als ausgesprochener »Israelfresser« hervorgetan, ein Waffendeal mit Israelis scheiterte lediglich am Veto Washingtons. Doch seine oft plumpen Angriffe auf die US-amerikanische Regierung verhelfen einem Antiimperialismus zu neuer Stärke, der nur zwischen guten Völkern und dem Satan aus dem Norden zu unterscheiden weiß. Das gefällt nicht nur zahlreichen Linksradikalen. Nach Angaben der Tehran Times frohlockte der iranische Präsident und Holocaustleugner Mahmoud Ahmadinejad vor wenigen Tagen, er habe mit Chávez telefoniert und werde noch im ersten Halbjahr 2006 nach Venezuela reisen. Bei einem Besuch seines Vorgängers Muhammad Khatami hat Chávez die »antiimperialistischen und revolutionären« Tugenden seines iranischen »Bruders« her­vorgehoben. Die iranische und die venezola­nische Revolution seien »ein Kampf gegen den Imperialismus, den Kolonialismus, das Lakaientum und die Nachgiebigkeit«.

So dürfte sich das Norberto Ceresole gewünscht haben. Der mittlerweile verstorbe­ne Argentinier arbeitete in den neunziger Jahren eng mit Chávez zusammen. Nach seinem Wahlsieg 1998 holte ihn der Venezolaner zudem als Berater ins Land. Ceresole stützte sich auf die Erfahrungen des populistischen argentinischen Peronismus, insbesondere widmete er sich aber dem »Mythos« der Judenvernichtung, der nur zur »Enteignung des arabischen Palästinas durch Israel« diene. Der wirkliche Völkermord habe an den Palästinensern stattgefunden. Kurzum: Ceresole war ein Nazi aus der Schule der französischen Negationisten, seine Texte gehören zur Hintergrundlektüre auf neonazistischen Homepages.

Chávez trennte sich 1999 von Ceresole, unter anderem wegen dessen Leugnung des Holocaust. Dennoch spielen einige der Ideen des Argentiniers in der so genannten Bolivarianischen Revolution Venezuelas eine Rolle. Etwa der »postdemokratische Caudillismus«, der eine autoritäre Führung des Staates durch einen Volkshelden vorsieht. Notwendig dafür sei eine direkte Beziehung zwischen Führer und Volk, jenseits des staatlichen Apparats. Auch unter diesem Aspekt müssen die grundsätzlich begrüßenswerten Maßnahmen betrachtet werden, mit denen Chávez Stadtteilarbeit, Selbstverwaltungsinitiativen oder Community-Radios unter Umgehung der Ins­titutionen unterstützt. Ganz unabhängig davon, ob der Caudillo die Römer gemeint hat. Was möglich ist. Venezolanische jüdische Organisationen jedenfalls widersprachen dem Vorwurf des Wiesenthal-Zentrums.