Gegen-Biologien

Sozialistischer Anti-Darwinismus von peter berz

Das kann den Herren aus den Labors nur gefallen. Gegen den lieben Gott ist man auf heimischem Terrain. Die Gene als das absolute Programm und der Absolute da droben verstehen sich so schlecht nicht. Denn selbst wenn die Wissenschaft und die Kirchen ein paar Kämpfe austragen, sind es die gleichen Erzählungen, die von beiden unterdrückt werden. Es sind die niederen Geschichten, verworren und dunkel oder im gleißenden Licht: Abschmelzen der Polkappen! Sofortiger Umbau der Natur! Zähmung aller Tiger! Es sind Geschichten, die Michel Foucault als »Gegenhistorie« ansprach.

Sie erzählen vom Anti-Darwinismus der Handarbeiter, der Pfleger, Bauern, Taubenretter, jetzt und hier oder am Ende der Zeiten. Ivan Vladimrowitsch Mitschurin, der Gärtner aus Rjasan, kreuzt und pfropft, weil er Pfirsiche in Sibirien pflücken möchte. Auf seinen Feldern findet er »Liebesheiraten der Pflanzensamen«. Um ihnen andere Bahnen der Entwicklung zu zeigen, müsse man »die Gene lockern«. Sein windiger Schüler Trofim Lyssen­ko ist an Grundlagen wenig interessiert. Es geht um Hunger und die Folgen der Kulakenvernichtung. Der anarchistische Fürst Pjotr Kropotkin schreibt sein antidarwinistisches Meisterwerk über die »Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt«, als er Lebensmittel zu den Amur-Kosaken verschifft.

Dort sieht er das ganze Gegenteil des Insel-Kollers, den sich Darwin auf der überbevölkerten Insel Galapagos holte, um daraus jenes bekannte Gedrängel der Wesen aus Geist und Technik malthusianischer Volkszählung zu machen. Vor Kropotkins Augen dagegen rotten sich irgendwo in der endlosen Steppe ein paar zitternde Hirsche zusammen, die beim ersten Frost über den Fluss Amur setzen, gemeinsam Richtung Süden.

»Genossenschaften von Lebewesen« statt Kampf der Arten nennt das der Wiener Biologe Paul Kammerer. Seine Forschungen über die Vererbbarkeit von Farben, alias Eigenschaften, an Salamandern, erworben durch Mimikry an die Umgebung, veröffentlicht er in den Zeitungen der Monisten, die 1901 in Rom den obersten deutschen Biologen, Ernst Haeckel, auf ihrem Weltkongress gegen den Herrn im Vatikan zu ihrem Papst ausrufen. Der Sozialist Kammerer aber, anders als seine antidarwinistischen Genossen in Deutschland, die im finanziellen Windschatten sozialdemokratischer Pressemacht bis in die dreißiger Jahre eine Flut antidarwinistischer Werke publizieren, wird nach einem üblen Fälschungsskandal aus der darwinistischen Wissenschaftsgemeinde ausgeschlossen.

Monate vor dem Skandal, der ihn in den Freitod treibt, ergeht an ihn ein Ruf in die Sowjetunion. Denn in den zwanziger Jahren beginnen russische Biologen die Revolution biologisch-materialistisch zu denken, von der Kolchose bis in die Zelle. Der Histologe Aleksandr Gurwitsch nennt, was sich zwischen Mutter- und Tochterzelle abspielt, schlicht »Stetigkeitsbruch«. Es gehe um die »Entfaltung neuer Potenzen« der Zelle, die vor allem eins ist: reaktiv, auf ihre Umwelt bezogen.

Der Organismus ist, im mathematischen Sinn des Wortes, kein explizites System, in dem an abhängiger Variable und Argument schon alles abzulesen ist. Organismen sind implizit. Was in ihnen steckt, hängt von den Umständen ab, vom Feld oder, historisch, Umfeld. An Gurwitschs Theorie der morpho­genetischen Felder wird sich denn eines schönen Tages die Biologie auch geopolitisch teilen. Im kapitalistischen Westen: Gene, Mutationen, Programme, im sozialistischen Osten: Felder, Formen, leuchtende Zellen.

Das von Helmut Hoege, Cord Riechelmann und Peter Berz herausgegebene Buch »Anti-Darwin. Schafft zwei, drei, viele Biologien« erscheint im Frühjahr 2006 im Kadmos-Verlag Berlin.