Was tun, wenn’s brennt?

Nach einer Serie von Bränden in baufälligen Häusern, darunter auch ein Squat, werden arme, migrantische Familien aus dem Zentrum von Paris vertrieben. von bernhard schmid

Es ist 7.07 Uhr in der Frühe, als die Nachricht auf meinem Handy eintrifft und einen Piepston auslöst: »Es wird schon wieder ein Squat geräumt. Rue de la Fraternité im 19. Arrondissement. Wer verfügbar ist, soll schnell kommen.« Dass Aktivisten der Solidaritätsbewegung vorab von der Polizeiaktion am 2. September erfahren und rechtzeitig an Ort und Stelle erscheinen können, um sie wie ich mitzuerleben, ist kein Zufall. Journalistinnen hatten die Information vorab von der Polizei bekommen. Innenminister Nicolas Sarkozy konnte es nicht lassen, die Presse in seine Pläne einzuweihen, um die Räumung mit einem Großaufgebot der Medien stattfinden zu lassen. Denn natürlich geht es dem Minister auch um die politische Wirkung der so erzeugten Bilder. Verhindern lässt sich die Räumung an diesem Morgen allerdings nicht. 60 Bewohner des Squats werden vor die Tür gesetzt.

Ein Squat ist ein besetztes Gebäude. Aber anders als bei Hausbesetzungen in Deutschland in den achtziger und neunziger Jahren wohnen darin in der Regel keine Junganarchisten oder Angehörige der Alternativszene, sondern proletarische Familien, die meisten aus Afrika – manchmal aus dem Maghreb, aber öfter noch aus subsaharischen Ländern. Auf dem so genannten freien Wohnungsmarkt haben sie kaum Chancen, weil sie keine Bürgschaften oder andere Garantien mitbringen, weil sie zu wenig verdienen, und natürlich auch wegen rassistischer Diskriminierungspraktiken vieler Hauseigentümer.

Dabei leben die allerwenigsten unter ihnen von Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe. Oft arbeiten die meisten Erwachsenen, sofern sie über legale Aufenthaltstitel verfügen, sogar im städtischen Dienst, beispielsweise bei der Straßenreinigung. Viele Schwarze stehen auf der untersten sozialen Stufe, jedenfalls sofern sie aus der ersten Einwanderergeneration stammen. Die in Frankreich geborenen Jugendlichen kommen gelegentlich auch an qualifiziertere Jobs, in den vergangenen Jahren vor allem wegen des Booms der Informatikbranche. Viele ältere Einwanderer oder Neuzuwanderer hatten und haben nicht so viel Glück beim sozialen Aufstieg. Wer von ihnen mit legalen Papieren arbeitet, verdient gewöhnlich den gesetzlichen Mindestlohn, das sind derzeit brutto etwas über 1 200 Euro, netto unter 1 000 Euro.

Eine Ein-Zimmer-Wohnung, die weniger als 500 Euro Miete kostet, braucht man derzeit innerhalb von Paris gar nicht erst zu suchen, und im unmittelbar an die Hauptstadt angrenzenden Teil der Banlieue (Vorstadtzone) liegt die Höhe der Mieten kaum darunter. Das Gesetz schreibt allerdings vor, dass ein neu einziehender Mieter das Dreifache der Wohnungsmiete im Monat verdienen soll, in der Praxis verlangen die Maklerbüros häufig noch mehr. Arm zu sein, auch als Lohnempfänger, ist also auf dem derzeitigen Wohnungsmarkt nicht zu empfehlen. Arm und noch dazu schwarz zu sein, noch weniger.

Im vorigen Jahr wurde geschätzt, dass rund 5 000 Menschen allein im Pariser Großraum deswegen in Squats leben, in der Mehrzahl als Familien. Solche besetzten Häuser liegen meist in heruntergekommenen Gegenden, oft am Stadtrand von Paris oder in Vorstädten. Regelmäßig organisiert die kämpferische Wohnrauminitiative DAL, das Kürzel steht für »Recht auf Wohnung«, kollektive Besetzungen mit solchen Familien.

Seit Ende August ist das Thema überall präsent. Eine Serie von Bränden in baufälligen Häusern, darunter auch ein Squat, löste in einem Teil der französischen Öffentlichkeit Empörung über die Lebensbedingungen vieler armer und rassistisch diskriminierter Menschen aus. In der letzten Augustwoche brannte zuerst ein heruntergekommenes Wohnhaus am Boulevard Vincent Auriol, im südlichen Zentrum von Paris. Die Bewohner waren von der Stadtverwaltung »provisorisch« in dieser Bruchbude untergebracht worden. Sie berichteten, wie sich die Ratten in dem Haus jagten und die elektrischen Drähte lose von den Wänden baumelten. Das offizielle »Provisorium« dauerte für die Bewohner 14 Jahre. 1991 hatten sie die Baustelle der heutigen Nationalbibliothek besetzt. Vier Monate lang hatten damals 300 Maghrebiner und Afrikaner, die alle legal in Frankreich lebten, zu 90 Prozent einer Erwerbsarbeit im formellen Sektor nachgingen und trotzdem keine Wohnung finden konnten, auf dem Bauplatz gezeltet, bevor sie die »provisorische« Unterbringung zugesprochen bekamen.

Vier Nächte nach diesem ersten Brand Ende August stand ein besetztes Gebäude in der Pariser Altstadt in Flammen. Die beiden Brände kosteten insgesamt 24 Menschen das Leben, ausnahmslos westafrikanischer Herkunft und vorwiegend Kinder.

Nunmehr wurde in der Öffentlichkeit über die offenkundig menschenunwürdigen Verhältnisse debattiert, in denen viele Migranten leben. Das besetzte Haus hatte wahrscheinlich durch einen Unfall mit defekten elektrischen Leitungen Feuer gefangen. Dagegen geht die Staatsanwaltschaft bei dem Brand am Boulevard Vincent Auriol inzwischen von kriminellen Brandstiftern aus. Es wird auch vermutet, dass es sich um einen »warmen Abbruch« gehandelt haben könnte, hinter dem wirtschaftliche Interessen stehen. Denn das baufällige Haus stand inmitten einer Umgebung, in der seit fünf Jahren ein Bürogebäude nach dem anderen hochgezogen wurde und wo der Quadratmeter Boden inzwischen über 4 000 Euro kostet.

Für Schlagzeilen sorgte dann am 4. September ein erneuter Brand mit 16 Toten in der Vorstadt Haÿ-les-Roses. Dieses Mal handelte es sich um das Ergebnis grob fahrlässiger Brandstiftung von vier jugendlichen Mädchen, die den Briefkasten einer »Rivalin« angezündet hatten und ihr »lediglich Angst einjagen« wollten – woraufhin das gesamte Hochhaus in Flammen stand. Den Fokus richteten die Medien in den folgenden Tagen auf »Jugendkriminalität«, womit sie von den drängenden gesellschaftlichen Fragen ablenkten, die durch die vorherigen Feuerkatastrophen aufgeworfen worden waren.

Für die Regierung war die Sache schnell klar: Die Opfer sind schuld, denn wären sie nicht am falschen Ort gewesen, dann wären sie auch nicht verbrannt. Innenminister Nicolas Sarkozy formulierte es nach den ersten zwei Bränden so: »Die Probleme resultieren daraus, dass viele Leute mit Wohnungsproblemen, darunter einige illegale Einwanderer, sich in Paris zusammenballen.«

Dagegen wusste er freilich Abhilfe, die er noch dazu unter dem humanitären Vorwand, er wolle ja nur »neue Katastrophen« verhindern, rechtfertigen konnte. Sie besteht aus einer großen Offensive gegen die Squats in der französischen Hauptstadt. Bereits am Tag, nachdem das Feuer in der Altstadt drei Erwachsene und vier Kinder getötet hatte, verkündete Sarkozy, die ihm unterstehenden Polizeibehörden hätten eine Liste von 60 »gefährlichen Objekten« erstellt. Diese seien nunmehr in kürzester Frist, notfalls gewaltsam, zu räumen. Natürlich alles im Namen der Humanität, um den armen Menschen einen möglichen Flammentod zu ersparen.

Die Ankündigung des Innenministers hatte nur einen kleinen Schönheitsfehler: Er fügte nicht hinzu, wohin die betroffenen Menschen denn gehen sollten. Eine ähnliche Methode wendet sein Amtskollege im Sozialministerium, Jean-Louis Borloo, an, der angekündigt hatte, im Namen des Kampfs gegen unzumutbare Wohnverhältnisse in den kommenden fünf Jahren insgesamt 25 000 Sozialwohnungen abzureißen. So sollen bis 2009 mehrere große Plattenbauten in der Pariser Trabantenstadt La Courneuve gesprengt werden.

Auch Borloo erwähnt nicht, wo deren bisherige Einwohner künftig leben sollen. Im Großraum Paris mangelt es derzeit akut an 150 000 Wohnungen zu erschwinglichen Mieten. Die Pariser Regierung will zwar einige neue, angeblich bessere Sozialwohnungen bauen lassen – aber bitte bloß nicht zu nahe am Zentrum der Stadt. In Paris wird zwar soeben auf einem ehemaligen Bahngelände im 17. Arrondissement Platz für mindestens 3 000 Wohnungen frei. Doch im frisch verabschiedeten neuen Staatshaushalt von Anfang September ist geplant, die dort vorgesehenen städtischen Wohnungen im Ausstattungs- und Preisniveau am Standard der Mittelklasse auszurichten. Dagegen sollen weit draußen »neue Städte« entstehen. Derzeit sind zwei Standorte rund 30 Kilometer außerhalb des Pariser Zentrums vorgesehen. Dort sollen sich die an Sozialwohnungen Interessierten ansiedeln.

Zwei Tage nach der Ankündigung von Innenminister Sarkozy folgen dann Taten. Am frühen Morgen des 2. September fahren Räumkommandos der Polizei an zwei Orten in Paris gleichzeitig auf, im nördlichen 19. Arrondissement und im 14. Bezirk, der im äußersten Süden liegt. Im Norden werde ich Zeuge, wie eine Hundertschaft der Polizei an die Tür einer ehemaligen Lernwerkstatt für Behinderte »klopft«. Die Werkstatt war vor fünf Jahren aufgegeben worden und wurde dann nach und nach von mehreren afrikanischen Familien instandbesetzt. Der Vorwand, es gelte durch die Räumung präventiv eine Katastrophe zu verhindern, ist in diesem Fall offenkundig fadenscheinig: Es waren bereits Renovierungsarbeiten an dem Haus vorgenommen worden, und für kommenden März hatte die Bezirksregierung sogar alternative Räumlichkeiten für die Bewohner in Aussicht gestellt.

Doch das Innenministerium und die Polizeidirektion wollten wohl ein Exempel statuieren. Zudem war das Gelände vor kurzem von einem Grundstücksspekulanten aufgekauft worden, der nunmehr Druck auf die bürgerliche Regierung ausübt, da er schnell Geld zu machen wünscht. Außerdem war das Wohnhaus der Staatsmacht wohl ein Dorn im Auge, da sich dort allwöchentlich das lokale Kollektiv der »sans papiers« (Einwanderer ohne gültige Aufenthaltstitel) traf.

Die rund 60 Bewohner werden aus ihren Betten gerissen. Für ihre Kinder wäre es der erste Schultag nach den Sommerferien gewesen, der jetzt zwangsläufig ausfällt. Sarkastisch bemerkten die herbeigeeilten Solidaritätsdemonstranten, dass die Zwangsräumung genau im Dreieck der Rue de la Liberté, Rue de l’Egalité und Rue de la Fraternité stattfindet. Verhindern kann die frühmorgendliche Mobilisierung nichts mehr. Immerhin zeigen sich zahlreiche Nachbarn spontan bereit, in ihren Wohnungen oder Garagen Haushaltsgerät der Geräumten unterzustellen. Zusammen mit ihren Unterstützern ziehen die Betroffenen in den nahe gelegenen Park am Boulevard d’Algérie, wo sie eine kleine Zeltstadt aufschlagen.

Einige Tage später sind sie dort abgezogen. Viele von ihnen sind bei Mitgliedern ihrer Community in den größeren Immigrantenwohnheimen untergekommen. Im Nordosten von Paris gibt es mehrere Kollektivwohnheime der Betreibergesellschaft »Sonacotra«. Deren Namen leitet sich aus der Bezeichnung »Nationale Gesellschaft für die Unterbringung algerischer Arbeiter« ab. Während des französischen Kolonialkriegs in Algerien sollte diese Gesellschaft ein quasi militärisches Überwachungsregime über die Arbeitsimmigranten walten lassen. Später wurde dies weniger streng gehandhabt, aber noch immer haben die Heimverwaltungen eine klare Überwachungsfunktion. In den letzten Wochen wurde bekannt, dass seit dem Beginn der Zwangsräumungen die Aufsicht in den Heimen drastisch verschärft worden ist, um zu unterbinden, dass Zwangsgeräumte und »illegale« Einwanderer von ihren Landsleuten beherbergt werden.

Eine Woche nach dieser Polizeiaktion piepst mein Telefon erneut frühmorgens: erneut eine Räumung im 19. Arrondissement, dieses Mal an der Place du Maroc. Das ist in meiner unmittelbaren Nachbarschaft. Die Bilder gleichen sich. Ein Großaufgebot an blau Uniformierten steht vor einem Haus mit abgeblätterter Fassade, das wohnlich sein könnte, wenn es renoviert würde. Dahinter machen sich zwei Maurer – selbst Immigranten – daran, die Eingangstüren mit Backsteinen und Gips zu versiegeln. Zwei Familien mit Kindern und zwei Ledige, alle Westafrikaner, werden unsanft nach draußen befördert. In der Nähe sammeln sich die Unterstützer, unter den neugierigen Blicken und teils dem Applaus der Nachbarn, die oft selbst Immigranten sind.

Auch heute geht es offenkundig um eine Machtdemonstration. Die Betroffenen hätten ohnehin in vier Wochen ein alternatives städtisches Wohnungsangebot erhalten sollen. »Wir wollen auch sicher gehen, dass wir nicht hereingelegt werden. Deswegen wollten wir so lange als Besetzer hier bleiben«, sagt Amara, den die Bewohner zu ihrem Sprecher gewählt haben, vor dem städtischen Gebäude, das nach der Räumung instandbesetzt wurde, »bis wir einen Schlüssel und einen Mietvertrag in den Händen halten.«

Für den nächsten Nachmittag hat die Wohnrauminitiative DAL eine ihrer berühmten Aktionen angekündigt. Ein paar hundert Menschen finden sich zum vorgegebenen Zeitpunkt auf den Stufen der Oper ein, anschließend ziehen sie zur Metro. Kaum jemand weiß, wohin die Reise geht, und während der Fahrt wird die Order durchgegeben: »Wir müssen unseren Plan ändern, die Bullen sind offenkundig auf dem Laufenden.« Also geht es nicht zu dem Objekt, das besetzt werden sollte, sondern vor die Parteizentrale der UMP, deren Chef Innenminister Sarkozy ist. Zuerst gibt es eine Sitzblockade, dann werden die Demonstranten von der Polizei eingekesselt. Schließlich dürfen alle Teilnehmer abziehen. Eine etwa 40jährige Frau geht spontan auf die Polizisten los: »Die Hälfte meiner Familie ist verbrannt. Meine Schwester und ihr Baby sind in den Flammen umgekommen. Und was hat man den Überlebenden angeboten? Und ihr steht hier, um diese Politiker zu beschützen, diese Hurensöhne …« Die anderen Betroffenen können die Frau gerade noch davon abhalten, gegenüber den Beamten handgreiflich zu werden.

Es ist nicht damit zu rechnen, dass die Probleme in absehbarer Zeit kleiner werden. Nach offiziellen Angaben stiegen die Mieten in Frankreich von 2001 bis 2004 um durchschnittlich 14,2 Prozent. Für das kommende Jahr werden weitere 4,7 Prozent prognostiziert. Der schreiende Mangel an Sozialwohnungen wird nicht geringer. Zwar schreibt ein Gesetz aus dem Jahr 2000 vor, dass alle Kommunen des Landes mindestens 20 Prozent Sozialwohnungen zur Verfügung stellen müssen. Doch die gegenwärtig amtierende Regierung wendet die Vorschriften, nach denen sie den säumigen Kommunen Geldbußen auferlegen könnte, schlichtweg nicht an. 762 mittlere und größere Städte sind im Rückstand gegenüber den Anforderungen dieses Gesetzes. Eine der säumigsten Kommunen ist der Pariser Nobelvorort Neuilly-sur-Seine. Ihr Bürgermeister ist Nicolas Sarkozy.