Die Mitte von links

Die viel zitierte »Mehrheit links von der Mitte« ist eine Illusion. von richard gebhardt

Während das Ergebnis der Bundestagswahl noch für einige Verwirrung sorgt, herrscht bei vielen Politikern und Publizisten zumindest in einer Frage Übereinstimmung: »Es gibt nach dieser Bundestagswahl eine Mehrheit links von der Mitte«, kommentiert die Süddeutsche Zeitung die Lage. Auch der Vorsitzende der IG Metall, Jürgen Peters, sieht in dem Wahlergebnis »die schon von Willy Brandt proklamierte strukturelle Mehrheit links von der Mitte«.

Der Vorsitzende der Linkspartei, Lothar Bisky, verweist angesichts der Wahlerfolge der Linken im Westen auf die »europäische Normalität«, die sich in der Veränderung des deutschen Parteiensystems zeige, und Gregor Gysi erkennt im Wahlergebnis sogar eine historische Dimension: »Seit Anfang der fünfziger Jahre ist erstmals eine Partei links von der SPD entstanden.«

Tatsächlich war das Parteiensystem der Bundesrepublik bis zum Einzug der PDS in den Bundestag im Jahr 1990 eher ein europäischer Sonderfall. Während vor allem in Italien und Frankreich die kommunistischen Parteien ein gewichtiger parlamentarischer Faktor waren und in der kommunistischen Bewegung heftig über den »Eurokommunismus« gestritten wurde, waren in den skandinavischen Ländern linkssozialistische Parteien eine feste Größe.

Anders stellte sich das Bild in der Bundesrepublik dar. Hier eilte die traditionelle Linke jenseits der SPD bei den Wahlen von Niederlage zu Niederlage. Die durch den Faschismus dezimierte KPD erreichte bei den Bundestagswahlen 1953 nur noch 2,2 Prozent der Stimmen. Nach dem Verbot der Partei im Jahr 1956 wurden ihre Kader inhaftiert, ins Exil getrieben oder ins politische Abseits gedrängt. Linkssozialistische Parteien, wie die Arbeiterpartei (AP), blieben nach ihrer Konstituierung politische Winzlinge und Fremdkörper in den offiziellen Kampflinien des Kalten Krieges.

Mitte der sechziger Jahre traf sich, initiiert vom Sozialistischen Bund (SB), der Vorbereitungskreis für die Gründung eines Sozialistischen Zentrums nach dem Vorbild der italienischen PSIUP von Lelio Basso. Doch dieser Zirkel, dem unter anderen der Marburger Politikwissenschaftler und Staatsrechtler Wolfgang Abendroth angehörte, wurde 1968 von der Neukonstituierung der DKP überrascht.

Der letzte große Versuch in der alten Bundesrepublik, die sozialistischen Kräfte zu bündeln, blieb eine Fußnote in der Parteiengeschichte: die 1982 vollzogene Gründung der Demokratischen Sozialisten (DS) durch die SPD-Bundestagsabgeordneten Karl-Heinz Hansen und Manfred Coppik, die sich von der Politik des Bundeskanzlers Helmut Schmidt abwandten. Linkssozialisten führten eine Randexistenz in der Sozialdemokratie, spielten aber ebenso wie Kommunisten eine begrenzte Rolle in den Gewerkschaften und der Friedensbewegung. Dieses im Westen marginalisierte und seit den neunziger Jahren primär in der PDS versammelte Milieu kann nun einen noch zur Jahresfrist unerwarteten Erfolg feiern.

Dennoch ist Gysis historische Einordnung ungenau. Große Hoffnungen auf eine Partei »links von der SPD« gab es schon zu Beginn der achtziger Jahre. Tausende ehemalige Mitglieder der zahllosen K-Gruppen feierten ihren Abschied vom revolutionären Subjekt, dem Proletariat, und stürzten sich auf die »neuen sozialen Bewegungen«, denen das »grüne Projekt« als »parlamentarischer Arm der Bewegung« dienen sollte. Mitgeprägt von den Hamburger Ökosozialisten um Thomas Ebermann und Rainer Trampert sowie den Frankfurter »Fundis« um Jutta Ditfurth, waren die Grünen eine höchst heterogene Partei, die trotz des Erstarkens der »Realos« und der Existenz rechter Ökologen in den achtziger Jahren auch dezidiert linke Thesen vertrat. Partiell wurde auch die Nähe zu Gewerkschaftslinken wie dem Vorstandsmitglied der IG Metall, Horst Janssen, gesucht, einem der Erfinder der 35-Stunden-Woche.

Heute stehen die Grünen dem liberalen Bürgertum weitaus näher als den Organisationen der abhängig Beschäftigten. Die SPD hat mehr Schnittmengen mit der Union als mit der Linkspartei, was ihr Beharren auf der Politik der Agenda 2010 beweist. Die herbeizitierte »Mehrheit links von der Mitte« ist deshalb in vielfacher Hinsicht nicht politisch handlungsfähig. Keine Koalition wurde bereits vor der Wahl so heftig bekämpft und dementiert wie eine mögliche rot-rot-grüne.

Die Phalanx aus Franz Müntefering, Oskar Lafontaine und Gregor Gysi diente der Springer-Presse oder auf Parteitagen der CSU als Horrorszenario. Konsequent wurde die offizielle politische Semantik den »Sachzwängen« angepasst. Als fortschrittlich gilt, wer den Sozialstaat abbaut, als konservativ, wer wie die Gewerkschaften und die Linkspartei soziale »Besitzstände« wahren will. Die SPD, die Grünen und die Linkspartei stehen für divergierende Ziele und Vorstellungen.

Widersprüche durchziehen jedoch auch die Fraktion der Linkspartei selbst, die am Freitag zur konstituierenden Sitzung zusammenkam. Bereits jetzt geraten Abgeordnete in die Schlagzeilen wie der Mitbegründer der Wasg, Hüseyin Aydin, denen Gedankenspiele über eine Tolerierung eines von der SPD geführten Kabinetts nachgesagt werden.

Auch bei anderen Themen sind Konflikte programmiert. In der Ausländer- und Flüchtlingspolitik steht die Antirassistin Ulla Jelpke den Meinungen von Oskar Lafontaine gegenüber. Die absehbaren Auseinandersetzungen in diesen Fragen können wahrscheinlich nicht vom Fraktionszwang unterdrückt werden. Und die gegenseitige Abneigung, die den Pragmatiker Gregor Gysi mit dem ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der PDS, Diether Dehm, verbindet, dürfte noch größer sein als die Antipathie zwischen Guido Westerwelle und Jürgen Trittin.

So verführerisch die Vorstellung einer »linken Mehrheit« auch ist: »Links« ist im herrschenden Diskurs ein leerer Bedeutungsträger, der ähnlich wie das Konterfei von Che Guevara vielfältig benutzt werden kann. Ein illustres Beispiel hierfür gab noch in der Wahlnacht der Journalist Ulf Poschardt, der beim Springer-Verlag als Berater der Chefredaktion der Welt am Sonntag unter Vertrag war. Poschardt, der Verfasser der Bücher mit den Titeln »Cool« und »Anpassen«, bezeichnete sich im ZDF als »alten Linken« und beschwor den Grundwert der »Freiheit«. Gewählt hatte er nach eigenem Bekunden die FDP.

In einer Mediengesellschaft, deren Leitbild der Geschäftsklimaindex ist, bildet die Linkspartei zwar ein bestimmtes Gegengewicht. Unübersehbar aber ist die derzeitige Schwäche der außerparlamentarischen Bewegung, die nur vorübergehend zur Massenbewegung werden konnte. Das Sozialforum in Erfurt Ende Juli 2005 blieb ein Treffen weniger Aktivisten; die Proteste gegen Hartz IV nahmen schon vor der Verwirklichung der Arbeitsmarktreformen ab.

Vor diesem Hintergrund ist die Linkspartei ein parlamentarischer Arm ohne schlagkräftige soziale Bewegung. Wird die gesellschaftliche Opposition nicht stärker, dürfte der Euphorie über den Wahlerfolg rasch ein nüchterner Blick auf die künftigen Abwehrkämpfe folgen. Die derzeit zirkulierende Rede von den »linken Mehrheiten« dürfte sich als Fiktion erweisen.