Fesseln und betäuben

In einem geschlossenen Heim in Hamburg sollen Jugendliche gefesselt und mit Psychopharmaka ruhig gestellt worden sein. von anke schwarzer

Reizgas, Fesseln, Psychopharmaka, Ausbrüche, überfordertes Personal: Diese Stichworte kennzeichnen die Zustände in der geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße in Hamburg. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen mehrere Mitarbeiter der Anstalt wegen des Verdachts auf Körperverletzung im Amt. Sie sollen den dort untergebrachten Jugendlichen ohne Zustimmung der Sorgeberechtigten Psychopharmaka verabreicht haben. Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss befasst sich mit den Vorkommnissen.

Bereits im Dezember 2004 hatten sich zwei geflohene Jugendliche über ihre Behandlung in der Feuerbergstraße beschwert und angegeben, dass sie mit Medikamenten ruhig gestellt worden seien. Der Senat gab im März auf eine Kleine Anfrage hin bekannt, dass zehn von 25 Jugendlichen Psychopharmaka, wie Risperdal und Truxal, erhalten hätten, neun von ihnen zum ersten Mal in der Feuerbergstraße. Für den Geschäftsführer des Landesbetriebs Erziehung und Berufsbildung, Klaus-Dieter Müller, geht es in dieser Debatte nur um die Erörterung »abstrakter Rechtsfragen«. Den betreffenden Eltern sei klar gewesen, was mit ihren Kindern geschehe, nur liege nicht immer eine formelle Einverständniserklärung vor.

Das Heim des Landesbetriebs der Stadt Hamburg, das der damalige Senat aus CDU, FDP und Schill-Partei im Jahr 2002 einrichtete, bietet 18 geschlossene Plätze für so genannte Intensivtäter, für Jungen zwischen zwölf und 16 Jahren. Auf ihr Konto gehen Raub, Diebstahl, Einbruch, Körperverletzung und sexuelle Nötigung in zahlreichen Fällen. Derzeit sind in dem Heim vier Jugendliche untergebracht. Sie kommen aus schwierigen, armen Familienverhältnissen, haben in der Regel mehrere Jugendhilfemaßnahmen durchlaufen oder abgebrochen. Viele sind vernachlässigt worden oder hatten sexuelle Übergriffe und andere Misshandlungen zu erleiden.

Gewalt wird aber offenbar auch in der Feuerbergstraße selbst angewandt, wenn man nicht schon die Einrichtung an sich als Gewalt bezeichnen will. Nach einer Dienstanweisung sind »Reizgassprüher« und »Montagebänder zur Fixierung« als Dienstwaffen erlaubt. Fast 200 besondere Vorkommnisse wurden in den vergangenen zwei Jahren gemeldet, darunter brutale Übergriffe, Selbstverletzungen, Selbstmorddrohungen und rund 35 Ausbrüche.

»Wir werden herausfinden, ob die Behördenleitung ein Amok laufendes politisches Prestigeprojekt sich selbst überließ, weil die Ergebnisse weniger wichtig schienen als der Eindruck, hier werde endlich durchgegriffen«, sagt Thomas Böwer, der Obmann der drei SPD-Abgeordneten im Untersuchungsausschuss. 20 Mitarbeiter hätten das Heim verlassen, der Krankenstand bei den 36 Mitarbeitern habe in zwei Jahren 2 270 Tage betragen. Außerdem hätten Mitarbeiter der Firma Securitas, die sonst U-Bahnhöfe überwachten, pädagogische Aufgaben übernommen, sagt Böwer. »Die Feuerbergstraße muss von heute auf morgen verschwinden«, fordert er, die Einrichtung sei ein »Big-Brother-Container für Arme« ohne pädagogisches Konzept.

Gleichwohl lehne er eine geschlossene Unterbringung nicht generell ab. Manche Jugendliche seien nur so zu erreichen, allerdings müssten diese Einrichtungen auch den »Standards des 21. Jahrhunderts« entsprechen. Böwer wünscht sich nicht nur »größere Freiflächen«, sondern auch »unsichtbare Schließeinrichtungen«.

Nach Angaben von Sabrina Hoops, einer Wissenschaftlerin am Deutschen Jugendinstitut München, gibt es 15 geschlossene Heime in sieben Bundesländern. In Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen existierten keine derartigen Unterbringungen. Die Diplompädagogin weist aber darauf hin, dass die Plätze gelegentlich auch von Jugendlichen aus diesen Bundesländern belegt werden. Insgesamt übersteige die Zahl der Anfragen das Angebot an freien Plätzen bei weitem; 66 neue Plätze seien in Planung.

Christiane Blömeke, die für die Grün-Alternative Liste (GAL) im Untersuchungsausschuss sitzt, kritisiert nicht nur die Missstände in dem Hamburger Heim und fordert seine Schließung, sondern lehnt derartige Einrichtungen generell ab, da sie zu teuer seien und den Jugendlichen nicht helfen würden. Sie setzt sich für Alternativen ein, etwa für Wohngruppen mit einer besseren Betreuung der Jugendlichen durch qualifiziertes Fachpersonal rund um die Uhr.

Auch wenn die geschlossene Unterbringung mit derzeit 185 Plätzen in ganz Deutschland im Bereich öffentlicher Erziehung mit rund 105 000 Plätzen in stationären oder zum Teil stationären Einrichtungen quantitativ nur eine marginale Rolle spielt, sorgt sie für aufgeregte Debatten. Schließlich geht es um einen enormen Eingriff in die Grundrechte von Jugendlichen. Darüber hinaus prallen in dieser Frage auch unterschiedliche gesellschaftspolitische – und nicht nur pädagogische – Ansichten aufeinander.

Wie geht die Gesellschaft mit Jugendkriminalität um? Für die einen Jugendlichen gibt es intensivtherapeutische Einrichtungen, für die anderen die geschlossene Unterbringung. Der Jugendliche, dessen Vater einen guten Anwalt bezahlen kann, wird nicht in gleicher Weise bestraft wie derjenige, dessen Vater sich das nicht leisten kann. Mutmaßliche Dealer werden mit lebensgefährlichen Brechmitteln »überführt«, vergleichbare Methoden werden aber bei anderen Formen von Kriminalität wie etwa Geldwäsche, Waffenschmuggel, Bestechung oder Steuerhinterziehung nicht angewandt, ja nicht einmal gefordert. Der Diskurs über die Innere Sicherheit schürt die Angst vor den kleinen, jungen Tätern, die zwar nicht harmlos sind, die aber im Vergleich zu Neonazis und schlagenden Familienvätern eine marginale Gruppe darstellen. Die Unterprivilegierten, auch wenn sie keineswegs nur Opfer sind, werden eher zu Kriminellen gemacht und geraten, vor allem in Wahlkampfzeiten, in den Fokus von Populisten und Scharfmachern.

Charlotte Köttgen, die langjährige Leiterin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes der Stadt Hamburg, hebt hervor, dass die »Erziehung ohne Zwang«, wie sie seit 1980 in der Hansestadt praktiziert und politisch unterstützt wurde, erfolgreich gewesen sei. Doch die wenigsten wollten das wahrhaben. »Faktisch sind es immer Einzelfälle, die benutzt werden, um der gesamten Jugendhilfe Versagen zu attestieren. Besonders in Wahlkämpfen taugen positive Nachweise liberaler Konzepte nicht für Schlagzeilen«, kritisiert sie.

Sie spricht von den begrenzten pädagogischen Möglichkeiten, den fatalen Folgen von »Aufbewahrungsanstalten«, von den immer weniger werdenden Mitteln für die Jugendhilfe und der Verschlechterung der Lebensbedingungen im Allgemeinen. In Hamburg etwa nimmt die Zahl vernachlässigter und misshandelter Kinder zu. 25 Prozent der Kinder der Stadt lebten in sozialer Armut, sagt der Kinderarzt Michael Zinke. Gleichzeitig wird die Ausstattung der sozialen Dienste in den Bezirken immer prekärer: Einstellungsstopps, Überarbeitung der Mitarbeiter, extreme Arbeitsbedingungen, Einsparungen im Personalbereich und lange Wartelisten sind die Folgen. »Es wird für bessere Lebensbedingungen gekämpft werden müssen«, sagt Köttgen.