Das System erneuert sich

Über den Niedergang von Rot-Grün und die Neuordnung des Parteiengefüges. von rainer trampert

Als der Bundeskanzler um das Misstrauen bat, war jene Würde zu spüren, die es im Plenarsaal früher häufiger gegeben haben soll. »Wir haben uns diese Last auf die Schultern gelegt«, klang wie Martin Luthers Satz: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders!« Ein Staatsmann eben, der in preußisch-protestantischer Manier erst die Partei und dann sich für die Nation opferte.

Dieser Erhabenheit konnten Fischers Wahlkampfgetöse, Schulzens Nörgelei und der grinsende CDU-Advokat von Klaeden, dessen Beförderung näher rückte, nichts anhaben. Angela Merkel war so ergriffen, dass sie sich laufend verhaspelte, und Wolfgang Schäuble fand den Augenblick »über jeden Zweifel erhaben«. Beide wussten: Die rot-grüne Demission geschieht aus Staatsräson. Schröder räumte den Weg frei für die Weimarer Fürsorge, nach der die Familien für die Arbeitslosen aufkommen, und für die Regeneration der SPD, deren historische Funktion, die Zwänge der Kapitalakkumulation mit den Verlierern zu versöhnen, bis zur Schmerzgrenze ausgereizt ist.

Wie hätte die Partei im Herbst das Haushaltsloch von 40 Milliarden Euro (nach einem Steuererlass von 70 Milliarden für Unternehmen) meistern sollen, ohne völlig baden zu gehen? Die SPD muss auf die Füße kommen, denn das Stimmenpolster der Union kann schmelzen, wenn sie unter Berufung auf den »Staatsbankrott« das Armutsmodell vorantreibt. Man wollte auch die »Linkspartei« verhindern. Das ging aber in die Hose.

Es wird nicht übersehen, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung zu schwinden droht. Seit die Masse der Beschäftigten um ihre Ersparnisse fürchtet, sprechen sich 70 Prozent gegen Kürzungen im Sozialsystem aus, und sie sind mit dieser Meinung, da hat Lafontaine Recht, im Parlament nicht vertreten. Dazu kommt der Schock, dass gewerkschaftlich organisierte Facharbeiter und Angestellte überproportional für Nazi-Parolen anfällig sind.

Die Angst scheint die Unberechenbarkeit des staatstragenden Personals zu befördern. Deutsche zeichnen sich nicht durch Aufstände aus, aber nie wurde vorhergesehen, wann und wie das Rumoren umschlägt. Deshalb hat das Parteiengefüge den Unmut präventiv zu kanalisieren. Auch die rechte Eruption wäre dysfunktional. Nicht nur für’s Motto der Fußball-Weltmeisterschaft 2006: »Zu Gast bei Freunden«.

Die Zeit war schon lange reif für eine neue Partei, die sich staatsloyal der Verbitterten annimmt, doch bislang fehlte der Volkstribun. Eine rechte Partei mit einem deutschen Haider hätte es vielleicht auch getan. Aber die »Linkspartei« hatte mehr Glück. Die PDS hat sich als Ordnungskraft bewährt, wäre aber alleine nie im Westen angekommen. Westler fühlen sich im Ostpatriotismus nicht aufgehoben, für sie gilt: Wer mit SED-Funktionären kann, ist verdächtig, wer mit der Bild-Zeitung kann, ist seriös.

Mit Lafontaine wird der Unmut gesamtdeutsch eingefangen. Die PDS profitiert sogar im Osten von ihm. In Deutschland hat Jörg Haider nach einer Forsa-Studie »in der Wählerschaft der PDS« die meisten Anhänger. Nun ist »die Linkspartei« in Umfragen mit 30 Prozent die führende Partei im Osten. Trotzdem ist Lafontaine kein Haider, sondern ein überzeugter Sozialdemokrat, der nicht nur Ressentiments bedient, sondern dazu den sozialen Zorro spielt und Abtrünnige einer wieder vereinigten SPD zuführen will. Ein Vorhaben für die Geschichtsbücher.

Lafontaine ist wichtig für die Stabilität im Lande und gleichzeitig eine Plage für die Kapitalfraktionen, mit Ausnahme des Handels. Als Kanzlerkandidat wurde seine staatliche Loyalität geprüft und besiegelt. Wenn es hoch hergehen sollte, wird er der Erste sein, der Anwandlungen erstickt. Dafür bringt er mehr Erfahrung mit als Fischer, egal ob es sich um die Friedensbewegung oder um Streiks handelt. Die Befriedung des Vaterlandes ist ihm schon deshalb ein Herzensanliegen, weil er es wehrhaft machen will gegen »Angloamerika«. Das Ärgernis ist: Er kritisiert die »schicksalhafte« Armut, und wegen ihm ist die auf den Index gesetzte sozialstaatliche Regulierung wieder aktuell. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung reagiert fast schwermütig: »Die SPD hat Jahre gebraucht, zu verstehen, dass Parteitage die Globalisierung nicht niederstimmen können«, und nun macht dieser Idiot das kaputt!

Doch eine Anti-Hartz-Partei, die Flüchtlinge als Gäste bewirtet, bekäme keine Stimmen. Außerdem ist Lafontaine ein Gefangener seiner Abneigungen und genießt sich als Volkstribun. Deshalb treibt er die Mythen mit noch monströseren Mythen aus. Sein Code ist das von außen bedrohte »Volk«, dem er als Erlöser erscheint. Er lässt ungezügelt »Fremdarbeiter«, »gesunde Flüchtlinge«, die »Wall Street«, den »angelsächsischen Neoliberalismus« und dosiert Juden auftauchen. Als der Antisemit Hohmann aus der CDU geworfen wurde, kritisierte Lafontaine in Bild, die »gelbe Karte« hätte es auch getan. Mit den »Schandgesetzen«, die Assoziationen an den Versailler »Schandfrieden« wecken sollen, suggeriert er, die Regierung sei den Mächten bereits hilflos ausgeliefert. Ansässige »Türken« sind als »Steuerzahler« akzeptiert, aber er fragt sich, wann es wohl so weit sei, dass »Spitzenpolitiker in Europa die Zuwanderer in ihrer Muttersprache umwerben«. Soweit soll es mit der Zersetzung unserer Kultur gekommen sein!

Lafontaine autorisiert Parolen der Nazis und behindert zugleich ihre Wahlerfolge. Seine Ansprache zielt nicht auf Nazi-Zirkel, sondern auf die Mitte der Gesellschaft, die für solche Parolen offen ist. Damit steht er in der »Linkspartei« nicht alleine. Auch der Vorsitzende der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (Wasg), Klaus Ernst, sorgt sich, »dass durch eine schrankenlose Öffnung Menschen« einsickerten, während deutsche »NPD- und DVU-Wähler in einer verzweifelten sozialen Situation« leben (Lothar Bisky). Der Begriff »Linkspartei« ist in jeder Hinsicht bloßer Betrug.

Lafontaine verspricht dem Kapital gute Akkumulationsbedingungen, und seine sozialen Forderungen bleiben hinter den realen Transferleistungen der Kohl-Ära zurück. Man mag Verständnis dafür haben, dass Modernisierungsopfer sich nach dem Kohl’schen Sozialstaat zurücksehnen, aber links war dieser nicht. Man muss übrigens nicht nach der Meinung einzelner Mitglieder fragen. Ihre Abhängigkeit von Lafontaine ist stärker als die der Grünen von Fischer; der frenetische Applaus nimmt die Verhaltensmuster einer religiösen Sekte an. Das ist wohl so, wenn Leuten, die beim lebenslangen Bohren dicker Bretter keinen Millimeter vorangekommen sind, der Messias erscheint.

Sollte Köhler mitspielen und die »Linkspartei« nicht durch Verfahrensmängel aus dem Verkehr gezogen werden, haben wir bald ein Fünf-Parteien-System, in dem die historische Sozialdemokratie dreimal vertreten ist: mit den Grünen für ihre gut situierten, gebildeten Kreise, mit der »Linkspartei« für den »Sozialstaat« und als Ventil für Ressentiments, mit der SPD für die entgrünte Innovation. Sollte die Union noch Stimmen einbüßen, muss die SPD aus derselben Staatsräson, die ihr Abtreten begründete, in die große Koalition. Dann fällt ihre Regeneration flach.

Rainer Trampert begleitet für die Jungle World ab nächster Woche auf Seite 3 die letzten Tage von Rot-Grün